Alois Halbmayr – Josef P. Mautner
Nach dem Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine wurden verstärkt Stimmen laut, die eine umgehende Revision der christlichen Friedensethik forderten. In allen Debatten und Positionierungen der letzten Jahrzehnte haben sich die Konturen der christlichen Friedensethik sehr entschieden und ohne Einschränkung in Richtung Gewaltfreiheit, umfassende Gerechtigkeit (ökonomisch, politisch, sozial), präventive Friedensarbeit und grundlegende Ächtung des Krieges hin entwickelt. Sie hat ihren Fokus auf Gerechtigkeit als zentrale Voraussetzung für den Frieden in vielen einschlägigen Dokumenten untermauert. Das Momentum einer militärischen Aggression mitten in Europa, lässt die Debatte nun vielfach in vorschnelle Forderungen nach einer Totalrevision der christlichen Friedensethik umschlagen.
Vorläufigkeit der Wahrnehmungen
Auch wenn die verschiedenen kirchlichen Dokumente[1] natürlich keine Antwort auf den brutalen Überfall des russischen Militärs auf die Ukraine geben, so bleiben die Grundzüge der christlichen Friedensethik unseres Erachtens dennoch uneingeschränkt gültig. Es ist nach wie vor richtig, dass Waffen vom Prinzip her keinen Frieden schaffen können und Gewalt nie ein Mittel der Konfliktlösung sein kann.[2] Diese Grundsätze sind mit dem Faktum einer militärischen Aggression bzw. eines Angriffskrieges in Europa nicht widerlegt oder an ihre Ende gekommen. Widerlegt ist einzig und allein deren verkürzte Wahrnehmung oder Inanspruchnahme – also jene Lesart der christlichen Friedensethik, die keinerlei Ambivalenzen und Aporien kennt.
Christliche Friedensethik ist sich der Vorläufigkeit der Wahrnehmungen wie der ethischen Urteile, die aus ihnen hervorgehen, in besonderem Maße bewusst. Sowohl Wahrnehmungsstrukturen als auch ethische Sollensziele bleiben ambivalent und können nicht vorschnell vereindeutigt werden. Dies zeigt sich an den verschiedenen Debatten, die rund um das richtige ethische Handeln in der Situation eines europäischen Krieges geführt werden: sei es die Debatte um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine in Deutschland oder die Debatte um sicherheitspolitische Neuorientierungen wie Bündnisfreiheit bzw. Neutralität oder Beitritt zur NATO. Der christlichen Friedensethik kommt hier eine Rolle kritischer Widerständigkeit zu – gegen die Versuchungen eines binären Denkens.
Um dies am Beispiel der aktuellen Debatte um Neutralität oder Beitritt zur NATO zu verdeutlichen: Christliche Friedensethik wird gut daran tun, dazu keine vereindeutigenden „Entscheidungshilfen“ zu liefern. Sie wird vielmehr versuchen, weiterführende Fragen zu stellen. Denn zum einen wäre es auf sachlicher Ebene fatal, die Frage nach einer Neuorientierung der österreichischen Sicherheitspolitik auf die Entscheidung zwischen Beibehaltung der Neutralität und NATO-Beitritt zu reduzieren. Zum andern gilt auch im Kontext dieses Krieges, dass Sicherheitspolitik wesentlich mehr ist als Militär- oder gar nur Aufrüstungspolitik.[3] Weiters bedeutet Kritik an einer bisher kaum vorhandenen aktiven Neutralitäts- und Sicherheitspolitik zum einen: Weiter wie bisher geht nicht; zum andern bedeutet sie aber nicht automatisch, dass ein NATO-Beitritt Österreichs die bessere sicherheitspolitische Option wäre. [4]
Mögliche Schritte zu einer realistischen Friedensethik des Christentums
Wie aus dem Vorangegangenen ersichtlich, erscheint es uns nicht möglich, eindeutige, Autorität beanspruchende Antworten auf die Dilemmasituation christlicher Friedensethik geben zu können. Was uns möglich ist, sind Vorschläge für mögliche Wahrnehmungs- und Handlungsperspektiven christlicher Ethik, die sie in die gesellschaftliche Debatte um diesen Krieg einbringen kann.
Erstens: „Wer aber den Frieden will, der rede vom Krieg“ (Walter Benjamin). Christliche Friedensethik wird nicht darum herumkommen, in eine intensive Auseinandersetzung mit dem politik- und militärwissenschaftlichen Forschungsstand zu aktuellen Kriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen einzutreten, um ihre Wahrnehmung zu schärfen und in diesen Diskursen mitsprechen zu können.
Zweitens: Aus dieser Auseinandersetzung erscheint es uns sinnvoll, eine differenzierte ästhetisch und ethisch geschulte Wahrnehmung von Kriegs- und Gewaltrealitäten zu entwickeln, die auch deutlich werden lässt, wie begrenzt unsere Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit in der jeweils akuten Kriegssituation ist. Diese differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit ermöglicht, den langen Weg von der Wahrnehmung zum ethischen Urteil auf sich zu nehmen und ihn nicht durch vorschnelle abstrakte Formeln einer Friedensethik oder einseitige, verkürzte Urteile über die „richtige“ Sicherheitspolitik zu überspringen.
Drittens: Christlicher Pazifismus ist nicht ein fertiges Set von vorgefassten ethischen Prinzipien, die es den jeweiligen Akteuren kriegerischer Konflikte zu verkünden gälte. Christlicher Pazifismus ist ein mühevoller, der eigenen Grenzen und Widersprüche bewusster Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit kriegerischer Gewalt vor dem Horizont der Reich-Gottes-Erwartung. Er macht sich auf die Suche nach Möglichkeiten Gewalt begrenzenden und Gewalt beendenden Handelns – auf allen Ebenen, auf der Ebene zwischenmenschlicher Not-Hilfe ebenso wie auf der zwischenstaatlicher Diplomatie.
Viertens: „Wer aber den Frieden will, der rede und handle für Frieden.“ Christliche Friedensethik formuliert in erster Linie so konkret und handlungsorientiert wie möglich die Selbstverpflichtungen christlicher Gemeinden und Kirchen, sich an ihrem jeweiligen Standort auf den „Weg des Friedens“ zu machen: sei es in der Unterstützung gerechter Selbstverteidigung, in der Für-Sorge für die ohnmächtigen Opfer der Kriege, sei es in der notwendenden und gerechten Aufnahme von Geflüchteten, die durch Kriege und ihre Folgen vertrieben wurden – gleichgültig ob sie „Europäer*innen“ seien oder aus anderen Kontinenten nach Europa geflüchtet sind.
Fünftens: Christliche Friedensethik hält konsequent am Primat gewaltfreier Konfliktlösungsstrategien fest. Sie legt ihren Fokus auf die Entwicklung gerechter ökonomischer, politischer, ökologischer und sozialer Strukturen und setzt alles daran, mit friedlichen Mitteln, durch Dialog, Gespräch, und Verständnis Frieden zu gewinnen. Dieser Primat bleibt gültig, auch wenn er in bestimmten Situationen, wie jetzt etwa im Ukraine-Krieg, völlig aussichtslos erscheint und keinen Ausweg bietet. Das ist tragisch, deprimierend und lässt Reaktionen zwingend erscheinen, die militärischen Widerstand bzw. militärische Unterstützung des Widerstands implizieren. Dies kann aber auch zu anderen Reaktionen wie humanitärer Hilfe oder gewaltfreiem Widerstand führen. Und beides kann politisch notwendig und moralisch geboten sein, ohne unmittelbar zu Lösungen zu führen. Krieg bleibt in jedem Fall eine Niederlage für die Menschheit.
Alois Halbmayr: A.o. Univ.Prof., lehrt systematische Theologie an der Universität Salzburg.
Josef P. Mautner: Literaturwissenschaftler und Theologe, in der regionalen Menschenrechtsarbeit tätig. www.josefmautner.at
[1] Jüngere Dokumente, u.a.: auf kath. Seite die Enzyklika Fratelli tutti von Papst Franziskus, das Hirtenwort Gerechter Friede der Deutschen Bischöfe, auf evangelischer Seite die Denkschrift der EKD Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen sowie die Kundgebung der 12. Synode der EKD in Dresden 2019, Kirche auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens.
[2] Das ist auch der durchgängige Tenor der Enzyklika Fratelli tutti.
[3] Vgl. dazu das „Konzept menschlicher Sicherheit“ (human security) als Leitbegriff des Entwicklungsprogramms der UN. Dieses Konzept trifft sich in beinahe allen Punkten mit den neueren Konzepten einer christlichen Friedensethik.
[4] Dass neutrale Staaten wie Österreich gerade im nichtmilitärischen Bereich einen wesentlichen Beitrag zur europäischen Sicherheitspolitik leisten können, zeigt das unerwartete Lob des UNO-Flüchtlingshochkommissars für das Ausmaß der Flüchtlingsaufnahme in Österreich seit 2015 – auch wenn „einige Spitzenpolitiker viel Negatives sagen“ (Filippo Grandi) und vieles an der österreichischen Flüchtlingspolitik zu kritisieren bleibt.