Gedichte von Leben und Tod auf der Flucht.

„Ende der Reise
Steine und
Stacheldraht,
sie markieren das Ende
der Reise.
…
Wie sterblich der Mensch!
Überleben wird
nur die Wut,
der Hass und der Schmerz.“
Ende des Jahres 2019 waren über 79,5 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Seit dem Jahr 2000 sind mehrere zehntausend Menschen an den europäischen Außengrenzen ums Leben gekommen. Sie ertrinken im Mittelmeer oder verdursten auf dem Weg dorthin in der Wüste. Die Internationale Organisation für Migration (IOM), die diese Statistiken bereitstellt, meint, dass die Zahlen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Todesfälle erfassen. Auf den Fluchtrouten durch Afrika sowie im Mittelmeer sterben weit mehr Menschen, als bekannt wird. Rund 21.500 Menschen sind laut Schätzungen in den Jahren 2014 bis zum 2. August 2019 auf den diversen Mittelmeer-Routen gestorben beziehungsweise gelten als vermisst.
Ich arbeite in einem regionalen Menschenrechtsnetzwerk, in dem u.a. Menschen und Organisationen aktiv sind, die Geflüchtete während des Asylverfahrens begleiten und beim Ankommen in der Aufnahmegesellschaft unterstützen. Seit 2018 hat die restriktive Grenzpolitik Österreichs und der meisten EU-Staaten Wirkung gezeigt. Die Zahl der Flüchtenden, die das Glück haben, in Zentraleuropa anzukommen, ist massiv zurückgegangen und sinkt weiter. Die Kehrseite dieser Medaille sind das Sterben und die massive Repression an den Außengrenzen sowie in den Grenzstaaten der EU.
Ich habe in der Menschenrechtsarbeit gelernt, Leiden, Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, die Geschichten der betroffenen Menschen aufzuzeichnen. Es gibt inzwischen eine Reihe von Stellungnahmen und dokumentierten Fluchtgeschichten von denen, die in diesem zynischen Hürdenlauf „durchgekommen“ sind. Viele aber haben durch die traumatischen Erfahrungen während ihrer Flucht ihre Sprache verloren und schweigen. Die Toten, Vermissten, Verschwundenen haben keine Stimme. Von ihnen bleiben nur dürre Berichte und Zahlen. Wie kann ich den Menschen, die nicht mehr für sich sprechen können, eine Sprache geben, versuchen, ihr Sprechen zu imaginieren?
Ein Weg eröffnete sich bei der Lektüre der Gedichtbände „In den Wohnungen des Todes“ (1947) und „Sternverdunkelung“ (1949). Erst im Mai 1940, als der Befehl für ihren Abtransport in ein Lager bereits zugestellt war, konnte Nelly Sachs mit ihrer Mutter aus Berlin nach Schweden fliehen. Die beiden Flüchtlinge lebten in einer Zweizimmerwohnung im Süden Stockholms. Nelly Sachs arbeitete immer wieder als Wäscherin, um für sich und ihre Mutter den Lebensunterhalt zu verdienen. Erst lange nach ihrer Flucht, 1953, erhielt sie die schwedische Staatsbürgerschaft. Im Winter 1943/44 entstand der Zyklus „In den Wohnungen des Todes“; es war der erste Gedichtband, den sie nach dem Ende des Krieges publizieren konnte. Diese Gedichte beziehen sich auf ermordete Menschen, die sie persönlich gekannt hat. Ihre Texte geben in einer lyrischen Intensität, die unvergleichlich bleibt, den Toten eine Sprache.
Die Texte in diesem Buch sind eine Zwiesprache mit den Gedichten von Nelly Sachs und bauen – an ihnen anknüpfend – an einer Sprache, die für die Überlebenden und Toten der Fluchtwege nach Europa spricht. Ein Unterfangen, das scheitern muss. Es kann weder der Würde der Menschen noch der Qualität von Nelly Sachs‘ Gedichten ganz gerecht werden. Dennoch: Es nicht zu versuchen, hieße, noch mehr zu scheitern. Den Gedichten sind Textabschnitte aus den Sammlungen „In den Wohnungen des Todes“ und „Sternverdunkelung“ vorangestellt. Die Textgestalt folgt der Ausgabe: Nelly Sachs: Das Leiden Israels. edition suhrkamp 51. Frankfurt/Main 1966.
Zehn von den 35 Gedichten sind Collagen von N.N. zugeordnet, betitelt mit: „Drawings Over The Text“. N.N. arbeitete in dem Land, in dem er geboren und verfolgt wurde, als Journalist und Zeichner. Er hat einen langen Fluchtweg hinter sich und einen weiteren vor sich. Nach dem endgültig negativen Entscheid über seinen Asylantrag ist er weitergewandert. Wo er sich nun aufhält, weiß ich nicht.