Trotz der schlechten Datenlage und des weitgehenden Fehlens von Längsschnittdaten, die längerfristige Trends messbar machen könnten1, lässt sich festhalten, dass seit dem Ende der Ost-West-Systempolarität einerseits der Umfang der weltweiten Migrationsbewegungen deutlich zugenommen hat, andererseits die unterschiedlichen Formen von Migration vielfältiger und differenzierter geworden sind. Ich werde auch – soweit dies möglich ist – auf die spezifischen, durch die Covid-19-Pandemie und die mit ihr einhergehenden, weltweit stattfindenden Beschränkungen verursachten Veränderungen der Migrationsbewegungen eingehen.2 Diese lückenhafte und wenig präzise Informationslage spiegelt sich auch in der Unschärfe der Begrifflichkeiten wider: Die für Betroffene oft lebenswichtige Unterscheidung zwischen „freiwilliger“ und „erzwungener“ Migration bzw. zwischen Migration und Flucht verschwimmt, und die begriffliche Unschärfe wird auch für deren populistische Verzerrung in politischen Diskursen instrumentalisiert. Migration ist kein Phänomen, das erst im Gefolge des Zweiten Weltkrieges entstanden wäre; im Gegenteil: es ist ein Phänomen von außerordentlicher historischer Reichweite. Die Behandlung ihrer diachronen Tiefenstruktur muss hier hintangestellt werden, es soll jedoch zumindest angemerkt sein, dass sie für deren Verständnis von wesentlicher Bedeutung ist.3 Migrationsdiskurse und Migrationspolitik waren und sind nicht zuletzt ein Instrument der räumlichen und sozialen Macht zu definieren: d.h. Grenzen zu setzen und Grenzen zu öffnen. So viel lässt sich zusammenfassend sagen: Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie haben – wie in einem Brennglas – die bereits vorhandenen Ungleichheiten sozialräumlicher Definitionsmacht sichtbar gemacht und gleichzeitig verschärft.4
Deshalb möchte ich zunächst einige Anmerkungen zur Begriffsklärung voranstellen, bevor ich einige verfügbare aktuelle Zahlen zu Migrations- und Fluchtbewegungen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene präsentiere. Im dritten Schritt sollen aktuelle Problemlagen und Chancen jener umfassenden Entwicklungen aufgezeigt werden, die durch Migrations- und Fluchtbewegungen in Gang gesetzt wurden bzw. werden. Die Covid-19-Pandemie hat kurzfristig massive Auswirkungen auf Migrations- und Fluchtbewegungen, die ich im vierten Abschnitt in einigen ausgewählten Punkten beleuchten möchte. Der abschließende fünfte Teil befasst sich mit religionsspezifischen Problemlagen und einer spezifisch christlichen Perspektive auf die Themen- und Handlungsfelder Migration und Flucht.
Erstens: Der Konflikt um Begriffe
Die politischen Debatten rund um Migration und Flucht haben, seit 2015 die internationalen Fluchtbewegungen auch die zentralen Staaten der EU in stärkerem Ausmaß miterfasst haben, an emotionaler Schärfe wie an begrifflicher Unschärfe zugenommen. Begriffsbildungen wie „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder „illegale Migration“ sind zum festen Bestandteil einer defensiv gestimmten Abwehrdebatte geworden, die eine nüchterne und sachbezogen differenzierte Wahrnehmung der komplexer gewordenen Phänomene rund um globale Wanderungsbewegungen erschwert hat.
Die klassische Definition von „Migration“ bedeutet die Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg.5 Dieser Definition liegt die Vorstellung einer zielgerichteten, linearen Bewegung zugrunde, an deren Anfangspunkt Emigration aus einem best. Land und an deren Zielpunkt Immigration in ein best. Land stehen. Was dadurch nicht erfasst ist, sind Migrationsbewegungen, die es schon immer gab wie Pendelmigration oder nomadische Lebensformen und solche, die seit dem 20. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen haben wie etwa alle Formen von Transmigration, der keine zielgerichtete Bewegung von A nach B zugrunde liegt, sondern wo Menschen mehrere geographisch, sozial und/oder kulturell verschiedene Lebensmittelpunkte haben und der Schwerpunkt dieser Lebensmittelpunkte wechselt oder verlagert wird.6 Fallweise wird Migration auch als Unterkategorie des Begriffes „Mobilität“ betrachtet. In diesem Zusammenhang wird Migration als Kategorie für alle Formen erzwungener Mobilität bzw. einer auf Druck entstandenen Mobilität verwendet.7 Strikt davon zu unterscheiden sind alle Formen einer (Hyper-)Mobilität unter dem Vorzeichen globalisierter Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftsbeziehungen in den Segmenten spätkapitalistischer Reichtumsgesellschaften.
Eine Definition von Migration ist – allein aufgrund der enormen Komplexität und Vielzahl ihrer Erscheinungsformen – ein scheinbar unmögliches Unterfangen. Die mittlerweile unüberschaubare Vielfalt von Definitionsversuchen hat zu diversen Definitions-Typologien von Migration geführt, u.a. etwa zu einer Typologisierung nach zeitlichen (Dauer und zeitlicher Verlauf), räumlichen (Analyse von Herkunfts- und Zielregionen) und kausalen (Analyse von Ursachen und Gründen) Kriterien von Migration.8 Ausgehend von der These, dass Migration im Regelfall auch von einer Situation ausgelöst wird, in der die Herkunftsgesellschaft die Grundbedürfnisse und/oder Grundrechte zumindest von Teilen ihrer Bevölkerung nicht mehr erfüllen kann, lassen sich verschiedene Formen von Druck oder Zwang unterscheiden, die Wanderungsbewegungen auslösen9: ökologischer, sozial(geographisch)er oder ökonomischer Druck, Menschenrechtsverletzungen, (Bürger-)Kriege und politische Gewalt etc.10 Es gibt darüber hinaus versch. Versuche, Listen von unterschiedlichen Migrationsformen zu erstellen, die häufig unvollständig bzw. unsystematisch bleiben (müssen).11 Außerdem gibt es Systematisierungsversuche, etwa in Form der Bildung von Polaritäten wie „reguläre versus irreguläre Migration“, „internationale versus interne Migration“, „erzwungene versus freiwillige Migration“, „politisch versus wirtschaftlich motivierte Fluchtmigration“ etc. Gerade diese Bildung von begrifflichen Gegensatzpaaren macht deutlich, dass Begriffsbildungen und -definitionen nie ideologisch oder politisch neutral sein können; sie folgen immer einem best. Wahrnehmungsmuster und/oder Erkenntnisinteresse. Als durchgängig muss angesehen werden, dass Begriffsbildung im Bereich Migration zumeist aus der Perspektive der dominanten (Bevölkerungs-)Gruppen, Ethnien, Regionen bzw. Länder (im Regelfall der Aufnahmestaaten bzw. -bevölkerungen) heraus geschieht und die „schwächere“ Gruppe (also im Regelfall die Migrant*innen selber) zum Objekt der begrifflichen Zuschreibung wird.
Dem entsprechend muss die Begriffsbildung im Bereich Migration und Flucht als gesellschaftlicher (Aushandlungs-)Prozess verstanden werden, in dem sich ökonomische, politische und soziale Machtverhältnisse widerspiegeln. Was allerdings nicht davon dispensiert, dass die versch. Zweige der Migrationsforschung einem permanenten Bemühen um ein intersubjektiv verantwortbares Erfassen und Abbilden der diversen und komplexen Realitäten von Migration auf allen Ebenen verpflichtet bleiben.
Viele Ansätze der Migrationsforschung betrachten die Fluchtbewegungen als eine Untergruppe der verschiedenen Formen von Migration. Ich verwende in diesem Text „Flucht“ als einen von „Migration“ unterschiedenen und unterscheidbaren Begriff – und zwar vor dem normativen Hintergrund der spezifischen menschenrechtlichen Fundamente von Flucht und des international verbürgten grundrechtlichen Status von Flüchtlingen – auch wenn ich mir der Unschärfen und Lücken der von der „Genfer Konvention“12 grundgelegten Definition des Flüchtlingsstatus sehr wohl bewusst bin.13
Zweitens: Die Vielzahl und die Einzelnen
Die politischen Nachbeben der Fluchtbewegungen um das Jahr 2015 haben gezeigt, dass die Konfrontation mit einer großen Masse von flüchtenden Menschen Würde und Rechte der Einzelnen ebenso zum Verschwinden zu bringen droht, wie sie internationale grundrechtliche Standards der Erosion durch rechtspopulistische Diskurse aussetzt: „Hier liegen viele unter dem Wagen, und es gehen viele vorüber und tun nichts dergleichen. Ist das, weil es so viele sind, die leiden?“14 Wo wohlsituierte Menschen mit einer unüberschaubaren Vielzahl an Leid konfrontiert werden, scheint die Empathiefähigkeit verloren zu gehen: „Soll man ihnen nicht mehr helfen, da es viele sind? Man hilft ihnen weniger.“15Außerdem hat die Covid-19-Pandemie gezeigt, wie die (mediale) Dominanz eines Phänomens, das tiefgreifende Einschnitte in Freiheitsrechte, Wirtschaftsleben und Alltag der Menschen auch in den Reichtumsgesellschaften mit sich gebracht hat, die öffentliche Wahrnehmung der Elendssituationen von Geflüchteten beinahe zum Verschwinden brachte.16
Im Angesicht dieses Paradoxons nenne ich hier einige Zahlen zur globalen, europäischen und nationalen Ebene von Migrations- und Fluchtbewegungen, um zumindest ein ungefähres Bild von den Dimensionen und Relationen eines weltweiten Phänomens zu vermitteln, das sich im jeweilig lokalen Kontext in der Form von Einzelbiographien abbildet.
Bei den Zahlen zu weltweiter Migration misst man zunächst die Bestandszahlen, die „der Gesamtzahl internationaler Migrant*innen“ entsprechen, „die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt im jeweiligen Land befinden“17 Die von den UN geschätzte Gesamtzahl internationaler Migrant*innen für Mitte 2019 beträgt 272 Mill., davon 82,3 Mill. in Europa, 83,6 Mill. in Asien und 58,6 in Nordamerika. Dies bedeutet einen Anstieg um 52 Mill. seit dem Jahr 2010 sowie um 99 Mill. seit dem Jahr 2000.18 Davon zu unterscheiden sind die Daten zu den internationalen Migrationsströmen, also die Anzahl jener Personen, die ein Land innerhalb eines best. Zeitraumes verlassen und/oder in ein Land einwandern. Hier ist die Datenlage äußerst lückenhaft, und valide Zahlen gibt es nur für die OECD-Mitgliedsländer: Nach einem Rückgang, bedingt durch die internationale Finanzkrise, haben die Wanderungsbewegungen seit 2011 wieder um knapp 25% von 4 auf fast 5 Mill. zugenommen. Nach einem durch den Rückgang der sog. „humanitären Zuwanderung“ bedingten Gesamtrückgang 2017, haben sie 2018 wieder auf ca. 5,3 Mill. zugenommen.19 Eine zusammenfassende Schätzung für den Zeitraum 2010 – 2015 ergibt, dass ca. 37 Mill. Menschen ihr Herkunftsland verlassen haben, um in einem anderen Land zu leben.
Die von UNHCR erfassten und veröffentlichten Zahlen zu Menschen, die aufgrund von Konflikten, Kriegen, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen flüchten mussten (UNHCR-Populations of Concern), zeigen seit vielen Jahren immer weitergehende signifikante Anstiege. Diese Daten umfassen folgende, von UNHCR definierte Personengruppen: „Refugees“(Flüchtlinge), also Personen, denen aufgrund verschiedener Konventionen der Flüchltingsstatus zuerkannt wird; „Asylum-seekers“ (Asylsuchende), also Menschen, die um internationalen Schutz angesucht haben und deren Status noch nicht geklärt ist; „Internally displaced persons“ ( interne Vertriebene), also Menschen, die innerhalb ihres Herkunftslandes auf der Flucht sind und (noch) keine internationale Grenze überschritten haben.20 Die Gesamtzahl von Geflüchteten weltweit mit Jahresende 2018 betrug 74,79 Mill. „Persons of concern“, davon 20,360.562 „Refugees“, 3,503.284 „Asylum-seekers“ und 41,425.147 „Internally displaced persons“. Im Vergleich dazu waren es 2010 33,92 Mill. – also war innerhalb von 8 Jahren ein Anstieg um 40,87 Mill., d.h. von deutlich mehr als 50%, zu verzeichnen. Durchschnittlich fliehen 37.000 Menschen pro Tag aufgrund von Konflikten oder Verfolgungen.
Signifikant sind noch einige Zahlen zu Herkunfts- und Aufnahmeländern: 57% der von UNHCR registrierten Geflüchteten kamen aus drei Herkunftsstaaten: 2,3 Mill. aus dem Südsudan, 2,7 Mill. aus Afghanistan und 6,7 Mill. aus Syrien. Zur Aufnahmesituation: Ca. 55,4% aller Geflüchteten sind „Internally displaced persons“ und ca. 80% aller Geflüchteten weltweit leben in ihrem eigenen Herkunftsland oder in den Nachbarländern ihrer Herkunftsstaaten. Die Aufnahmeländer mit den meisten anerkannten Flüchtlingen weltweit sind: Türkei (3,681.685 Mill.), Pakistan (1,404.019 Mill.), Uganda (1,165.653 Mill.) und Sudan (1,078.287 Mill.). Deutschland, das einzige europäische Land unter den 10 Hauptaufnahmeländern weltweit, hat 1,063.837 Mill. Geflüchtete aufgenommen.
Man kann davon ausgehen, dass die Fluchtbewegungen jetzt, in den ersten vier Monaten des Jahres 2020, – bedingt durch die Einschränkungen im Gefolge der Covid-19-Pandemie –in Europa erneut zurückgegangen sind. Die Zahl der Asylanträge in der Europäischen Union hat jedenfalls deutlich abgenommen: European Asylum Support Office stellt zu den „latest asylum trends“ im „EU+picture“ fest: „The first two months of the year revealed persistently high levels of asylum applications (…), before the COVID-19 outbreak, asylum trends were at the highest point for the past two years. In March, just 34 737 applications were lodged in the EU+, dropping by almost a half from February.”21Allerdings muss mittelfristig wieder mit einem Anstieg der Fluchtbewegungen gerechnet werden, nicht zuletzt deshalb, weil durch die Pandemie in ihrem weiteren Verlauf etwa im Nahen Osten und in Nordafrika die Lebensmittelversorgung beeinträchtigt und die Sicherheitslage noch instabiler werden könnte.
Auf dem Hintergrund dieser globalen Trends möchte ich noch einige wenige Zahlen zu Österreich präsentieren: 2018 sind ca. 146.900 Menschen nach Österreich zugewandert, ca. 111.600 haben das Land verlassen; die Nettozuwanderung betrug also ca. 35.300 und lag damit um 21% unter der Zahl im Jahr 2017, was auf einen weiteren Rückgang der Zuwanderung von Asylsuchenden aus Drittstaaten zurückzuführen war. 87.900 von den Zuwander*innen waren EU/EFTA-Bürger*innen, 43.900 kamen aus Drittstaaten und 15.100 waren rückkehrende österr. Staatsbürger*innen. Der Bericht zu „Migration & Integration“ der Statistik Austria mit den Zahlen zum Jahr 201822 zählt 2,02 Mill. – also ca. 23% der Gesamtbevölkerung – „mit Migrationshintergrund“, d.h. etwa 1,49 Mill. Menschen der „ersten Generation“ von Migrant*innen und ca. 530.000 Personen der „zweiten Generation“, die in Österreich geboren sind. Mit Stand 1.1.2020 weist Statistik Austria bereits knapp 1,5 Mill. aus. Die größte Gruppe der ausländischen Staatsangehörigen in Österreich sind mit 200.059 die deutschen Staatsbürger*innen, gefolgt von den rumänischen (123.461) und serbischen (122.364) sowie den türkischen (117.640) Staatsangehörigen. Insgesamt ist der Bevölkerungsanteil der Gruppe ausländischer Staatsbürger*innen seit 2010 von 10,6% auf 16,7% (mit Stand 1.1.2010) gestiegen.
Die Zahl der Asylanträge, die in Österreich gestellt wurden, lag 2019 bei 12.511, davon 963 Anträge (ca. 7,7%) von Unbegleiteten Minderjährigen. Im Jahr davor waren es 13.746. Damit kam es seit dem Höchststand 2015 (88.340) zu einem drastischen Rückgang: Die Zahl der Asylanträge des Jahres 2019 macht nur noch ca. 14% der Zahl von 2015 aus. Bei den beiden antragsstärksten Nationen Afghanistan und Syrien zeigt sich ein klarer Trend im Verhältnis der positiven zu den negativen Entscheidungen: Während es mit Stand Nov. 2019 bei den Asylwerbern syrischer Herkunft nur 8% negative und 89% positive Entscheide gab, sind die negativen Entscheide bei denen afghanischer Herkunft mit 41% gegenüber 46% positiven wesentlich höher.23 Aufschlussreich ist auch noch die Aufschlüsselung von rechtskräftigen Entscheiden (wiederum Stand Nov. 2019) nach ihrer Art, die den jeweiligen Aufenthaltsstatus der Betroffenen bestimmt; hier zeigt sich eine äußerst restriktive Tendenz: 9.394 negativen Asylentscheiden stehen 8.915 positive gegenüber. Bei den Entscheidungen über Subsidiären Schutz wurden 6.732 – d.s. 77,4% – negativ entschieden. Auch die Entscheide über Humanitäre Aufenthaltstitel weisen in die gleiche Richtung: 1.744 Positiventscheiden stehen 12.736 negative – also 87,8% – gegenüber; d.h. dass dieses wichtige Instrument der Aufenthaltsgewährung v.a. für humanitäre Härtefälle kaum mehr zur Anwendung kommt. Die Zahl der anerkannten Flüchtlinge ist EU-weit im Jahr 2018 um beinahe 40% zurückgegangen (2018: 333.355; 2017: 533.000). In Österreich waren es 2018 20.700. Über 40% aller positiven Asylbescheide wurden in Deutschland gewährt, gefolgt von Frankreich und Italien.
Auch bei den Asylanträgen in Österreich zeigt sich in den ersten beiden Monaten des Jahres 2020 noch eine konstante Anzahl von Asylanträgen (sogar mit einem Plus von 20-40% im Vergleich zum Vorjahr). Erst im März 2020 machen sich die Restriktionen im Zuge der Covid-19-Pandemie mit einem Rückgang der Anträge um über 20% auf 811 bemerkbar.24
Nur ein geringer Prozentsatz der weltweiten Flüchtlingszahlen (deutlich weniger als 20%) gelangt überhaupt an die EU-Außengrenzen. Setzt man darüber hinaus die in Europa seit 2015 stark rückläufigen Zahlen bei Asylanträgen und bei der Aufnahme zu den weiterhin drastisch steigenden Zahlen der weltweiten Fluchtbewegungen in Relation, zeigt sich das deutlich restriktivere Grenzregime der EU und verweist auf einen „Rückstau“ in den diversen Grenzregionen (Türkei, Griechenland, Nordafrika, Balkan, …). Dieser „Rückstau“ hat zu katastrophalen Unterbringungs- und Gesundheitssituationen in den Flüchtlingslagern dort geführt, die nun bei einem Ausbruch der Epidemie zu einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes führen würden.25 Vor dem Hintergrund der Dimensionen der globalen Migrations- und Fluchtbewegungen lassen sich manche innereuropäische wie innerösterreichische Debatten redimensionieren und im Lichte eines größeren Zusammenhanges betrachten. Ich möchte dazu nur die Stellungnahme des UN-Flüchtlingshochkommissars Filippo Grandi zitieren: Aus den Zahlen „spricht lauter als jemals zuvor die Notwendigkeit zur Solidarität und zu gemeinsamen Zielen bei der Prävention und Lösung von Krisen. Gemeinsam muss sichergestellt werden, dass die Flüchtlinge, Binnenvertriebenen und Asylsuchenden weltweit angemessen geschützt und versorgt werden, während zugleich Lösungen angestrebt werden.“26 Dem ist – auch was die österreichische Flüchtlingspolitik und deren internationales (Des-)Engagement betrifft – nichts hinzuzufügen.
Drittens: Probleme und mögliche Lösungen
Problemlagen und mögliche Ansätze für Lösungen im Hinblick auf Migrations- und Fluchtbewegungen nach Österreich sind – gerade auch in den letzten Jahren – Gegenstand zahlloser Debatten im politischen wie im wissenschaftlichen Bereich gewesen. Auch hier vornehmlich aus der Perspektive der aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft. Ich möchte die üblichen Themensetzungen und Argumentationsmuster hier nicht wiederholen, sondern die Frage aus einer ungewohnten Perspektive betrachten – nämlich aus der der Betroffenen selbst. Wo liegen zentrale Problemfelder und Lösungsansätze, wenn wir diese Frage aus der Lebensperspektive der betroffenen Migrant*innen und Geflüchteten heraus betrachten?
Die Plattform für Menschenrechte arbeitet in Salzburg seit mehr als einem Jahrzehnt vor dem normativen Hintergrund der Menschenrechte mit migrantischen (Selbst-)Organisationen zusammen. Aus den Erfahrungen in diesen Kooperationen möchte ich zwei Themen herausgreifen, die Migrant*innen selber, dort wo sie für ihre Interessen und die ihrer Gruppe(n) arbeiten, als wesentliche betrachten: politische Beteiligung und soziale Zugehörigkeit. Zur Frage der Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund muss man leider im politischen System Österreichs auf allen Ebenen (von der nationalen bis zur kommunalen) nach wie vor massive Defizite feststellen. Eine wichtige Grundlage für politische Gleichstellung und Partizipation in allen demokratischen Gesellschaften ist die Staatsbürgerschaft. Wir stehen nun vor dem Dilemma, dass eben diese Voraussetzung für Migrant*innen nur unter Überwindung hoher Hürden zu erreichen ist. Eine strukturelle Hürde per se bildet das rechtliche Prinzip, dem die Zuerkennung folgt: Denn die rechtlichen Grundlagen für Staatsbürgerschaft in Österreich beruhen auf dem sog. „Abstammungsprinzip“ („ius sanguinis“), durch das die Staatszugehörigkeit von jener der Eltern bestimmt wird. Dadurch ist in Einwanderungsländern wie Österreich auf längere Sicht ein demokratiepolitisches Defizit v.a. für die zweite und die folgenden Generationen von Migrant*innen bereits strukturell angelegt. Es erzeugt einen wachsenden Anteil von Menschen, die in Österreich leben, jedoch – wie ihre Eltern – eine andere Staatsangehörigkeit besitzen. V.a. für die Kinder und Enkel von Drittstaatsangehörigen bedeutet dies einen Zustand ererbter struktureller Benachteiligung und verunmöglichter politischer Partizipation. Dem gegenüber stellt das „Territorialprinzip“ („ius soli“) „für die zweite und folgenden Generationen jene automatische Deckungsgleichheit von Wohnbevölkerung und Staatsangehörigen wieder her, die für die erste Generation der eigentlichen Migranten nur durch freiwillige Einbürgerung erreicht werden kann.“27Deshalb empfehlen Integrations- und Bevölkerungsexpert*innen wie etwa Rainer Bauböck flexible Mischformen zwischen dem Abstammungs- und dem Territorialprinzip. Darüber hinaus wurden die Bedingungen der Zuerkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft für Einwander*innen in den letzten Jahren zunehmend verschärft. So hat Heinz Fassmann – damals Mitglied des „Migrationsrats für Österreich“ beim Bundesministerium für Inneres – 2015 in einem Artikel zum Staatsbürgerschaftserwerb selbst festgestellt: „Fast alle Novellierungen des Staatsbürgerschaftsrechts, die sich mit der Staatsbürgerschaft auf Antrag auseinandergesetzt haben, brachten eine inhaltliche Verschärfung – auch, um damit indirekt den Familiennachzug zu drosseln.“28 Diese Zugangsverschärfungen spiegeln sich auch in den statistischen Zahlen zur Einbürgerung: Blicken wir zum einen in den Jahren zwischen 2000 und 2006 auf eine Zahl von jährlich 25.000 bis 45.000 Einbürgerungen zurück, so ist die Zahl 2007 bis 2010 (bis auf knapp 6.200) drastisch gesunken und erst seither wieder leicht im Steigen begriffen. Mit der Zahl von unter 10.000 Einbürgerungen pro Jahr wird sich das angesprochene demokratiepolitische Defizit noch weiter vertiefen. Wir haben in Österreich eine stetig wachsende Zahl von Migrant*innen zweiter und folgender Generation(en), die auf keiner Ebene des politischen Lebens wahlberechtigt sind. Dieses Defizit spiegelt sich auch in der extrem niederen Anzahl von Funktionär*innen und Mandatsträger*innen mit Migrationshintergrund in fast allen politischen Parteien. Rainer Bauböck fasst seine Lösungsvorschläge zur schrittweisen Behebung dieses die Demokratie gefährdenden Defizits bündig zusammen: „Die politische Schlussfolgerung aus den hier vorgetragenen Überlegungen ist ein Plädoyer sowohl für die Öffnung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft als auch für die Einführung eines generellen kommunalen Ausländerwahlrechts und damit für die Kombination der beiden Wege zur demokratischen Inklusion von Einwanderern.“29
Dem beschriebenen Defizit entspricht auf der anderen Seite eine festschreibende Identitätszuschreibung als „Migrant*in“, die weder der gesellschaftlichen Realität noch dem Selbstbild der Betroffenen gerecht wird. Migrant*innenorganisationen und vertreter*innen beobachten eine wachsende Tendenz in der Mehrheitsbevölkerung, Migrationserfahrung als feststehendes Gruppenmerkmal zu begreifen und somit Migrant*innen durch die Fremdwahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft in den scheinbar unveränderlichen Grenzen einer sozialen „Randgruppe“ festzuschreiben. Dagegen hilft nicht einmal der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft. Und es widerspricht der Realität: zum einen der längst erfolgten Auflösung fester Milieugrenzen sowie der weitgehenden Vervielfältigung von Lebensformen, von denen Menschen mit Migrationserfahrung in keiner Weise ausgenommen sind. Gerade über Generationsgrenzen hinweg zeigt sich bei Migrant*innen, dass sich Familienformen ebenso wie Geschlechterverhältnisse, soziale Milieus oder Arbeitskontexte immer stärker ausdifferenzieren. Zum andern widerspricht eine solche Zuschreibung dem Selbstverständnis und der Selbstwahrnehmung von Migrant*innen. Denn Migrationserfahrung ist nur ein Merkmal unter vielen, das Identität begründet, und Migrant*innen begreifen sich selbst als genauso vielfältig und unterschiedlich, wie die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft. In der Realität ist die Vielfalt von Identitäten unter Migrant*innen meist größer, als unter den Angehörigen der sog. „autochthonen Mehrheit“ in der Bevölkerung, da Migration kein vereinheitlichendes, sondern vielmehr ein weiter ausdifferenzierendes Merkmal darstellt. Migration bedingt deshalb eine ungleich größere Differenz der kulturellen, sozialen, politischen, religiösen oder familiären Sozialisationsprozesse als Nichtmigration. Darüber hinaus ist sie ein Teil der Lebensgeschichte, der in ihrem Verlauf auch immer mehr Geschichte wird und aus dem Gegenwartserleben von Personen entschwindet. Eine Vergegenwärtigung durch Fremdzuschreibungen gerät zunehmend mit den je eigenen Identitätsvorstellungen von Menschen mit Migrationsgeschichte in Konflikt. Ich erinnere mich an ein Gespräch, bei dem mich ein ca. fünfzig Jahre alter Facharbeiter, der als Jugendlicher aus dem damaligen Jugoslawien nach Salzburg gekommen war, als Angehörigen der „autochthonen Mehrheitsbevölkerung“ fragte: „Warum werde ich immer noch als Migrant angesprochen? Ich bin österreichischer Staatsbürger und lebe seit mehr als 30 Jahren hier!“ Auch hier braucht es auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und sozialen Lebens die Kooperation auf Augenhöhe mit möglichst vielen migrantischen Selbstorganisationen vor Ort, ihre Förderung und Unterstützung von Seiten der Politik, der Interessensvertretungen, der Wirtschaft wie der Zivilgesellschaft.
Viertens: Migration unter den Vorzeichen der Covid-19-Pandemie:
Die Covid-19-Pandemie hatte auf den ersten Blick enorme Auswirkungen auf die Dimensionen wie auf die Art und Weise von Migrations- und Fluchtbewegungen. Gleichzeitig hat sie ebenfalls große Auswirkungen auf die Lebenssituationen von Migrant*innen und Geflüchteten weltweit und natürlich auch in Österreich. Hier können nur einige wenige Aspekte dieser Auswirkungen beschrieben und in Ansätzen analysiert werden. Eine umfassendere Darstellung wird erst in einem größeren zeitlichen Abstand und mit validem Faktenmaterial, das derzeit noch nicht vorliegt, möglich sein. Zunächst lässt sich pauschal feststellen, dass durch die massiven Beschränkungen innerhalb der betroffenen Länder sowie durch die Grenzschließungen, die von den meisten Staaten vorgenommen wurden, es zu einem massiven Rückgang der Migrations- wie auch der Flüchtlingszahlen in Europa gekommen ist. Ob dieser Rückgang über einen längeren Zeitraum anhalten wird oder ob sich – wie von EASO angenommen – mittelfristig wieder die vorangegangene kontinuierliche Wachstumsdynamik bei den Migrations- und Fluchtbewegungen weltweit durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.
Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen zu möglichen wechselseitigen Zusammenhängen zwischen der Covid-19-Pandemie und den globalen Migrations- wie Fluchtbewegungen anstellen. Offensichtlich ist ein Zusammenhang zwischen der weltweiten Verbreitung des Virus und der globalen Mobilität. Felicitas Hillmann, die Leiterin der Forschungsabteilung „Regenerierung von Städten“ am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS), hat verschiedene Zusammenhänge je nach den unterschiedlichen Formen von Mobilität festgemacht30: In Übereinstimmung mit der WHO betrachtet sie sog. „abgekapselte Mobile“, also Migrant*innen und Flüchtlinge, die in lagerähnlichen Verhältnissen auf engem Raum festgehalten werden, als die verletzlichste Personengruppe überhaupt, die einerseits einem hohen Risiko rascher Verbreitung ausgesetzt sind und andererseits durch eine dramatisch schlechte hygienische und gesundheitliche Versorgung im Falle der Ansteckung außerordentlich schutzlos sind. Am anderen Ende der Skala dieser „abgekapselten Mobilen“ wären die Passagiere von Kreuzfahrtschiffen, unter denen zwar ebenfalls das hohe Risiko rascher Verbreitung besteht, die aber einen ganz anderen Schutz aufgrund ihres Zugangs zu Hygiene und Gesundheitsversorgung genießen.
Darüber hinaus besteht ein evidenter Zusammenhang zwischen der Dichte und Geschwindigkeit der Ausbreitung des Virus in den Metropolen (global cities) und der Hypermobilität von Bevölkerungsgruppen, die zu den Träger*innen der globalisierten Gesellschaft und Ökonomie des 21. Jahrhunderts zählen: so etwa die Wirtschaftsmetropole Mailand und ihr Umland mit ca. 300.000 chinesischen Migrant*innen oder die enorme Zusammenballung von Tourist*innenströmen in der Altstadt von Venedig. Damit wäre die moderne Form der „Transmigration“ eine der wichtigsten Verbreitungsmotoren für die Pandemie. Denn Hillmanns These geht davon aus, dass die weltweite Verbreitung des Virus in seiner ersten Phase v.a. von den „Hochmobilen“ ausgegangen sei – also von Geschäftsreisenden, Kongressbesucher*innen, Tourist*innen und Gastarbeiter*innen. Dass das Virus auch von „Fremden“ übertragen wurde, hat immer wieder zu ethnisierenden bis rassistischen Zuschreibungen wie „Asylantenvirus“, Chinavirus etc. geführt, die jedoch an der eigentlichen Ursache, nämlich der Hypermobilität globalisierter Gesellschaftsformen, völlig vorbeigehen. Je enger der transmigratorische Austausch in diesen urbanen Zentren durch Hochgeschwindigkeitsverbindungen, Schiffsterminals und Flughäfen getaktet ist, umso anfälliger sind sie für einen exponentiellen Anstieg der Ansteckungskurven (so etwa London und New York).
Migrant*innen, deren Mobilität in der Regel unmittelbar mit Armuts- und Verletzlichkeitssituationen in Zusammenhang steht, sind in ganz anderer und wesentlich intensiverer Weise von der Covid-19-Pandemie betroffen als Menschen, die im Kontext der Hypermobilität globalisierter Reichtumsgesellschaften reisen. Ihre Vulnerabilisierung erhöht sich durch die Pandemie exponentiell. Ich nenne hier beispielhaft nur einige Folgen dieser globalen Krise auf Migrant*innen und ihr soziales Umfeld: Die Flüchtlingslager in den Randzonen der EU habe ich bereits benannt. In einer ähnlichen oder noch schlimmeren Lage befinden sich die Millionen von Binnenvertriebenen, die ebenfalls unter völlig unzureichenden Bedingungen in Lagern zusammenleben müssen. Binnenflucht ist die Folge von Bürgerkriegen, endemischer Gewalt und zerstörten staatlichen Strukturen. Patrick Youssef, stellvertretender Direktor für Afrika beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz: „In Burkina Faso haben wegen der Gewalt mehr als 1,5 Millionen Menschen keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten.“ In Somalia seien sogar 85 Prozent der Bevölkerung außen vor.31
Eine weitere Gruppe sind Wanderarbeiter*innen, Saisonarbeiter*innen oder Erntehelfer*innen, die in vielen Ländern unverzichtbar für vitale Wirtschafts- und Versorgungssektoren sind. „This situation has put a spotlight on the vital contribution that migrants, in particular seasonal agricultural workers, make in agrifood systems and in ensuring continuity of food supply. As a result of restrictive border measures, agricultural sectors in countries where seasonal migration plays an essential role, including many countries in the Global North, face significant labour shortages. For migrant workers and their families, the inability to earn abroad leads to fall in remittances, affecting their livelihoods as well as access to broader social protection, such as quality health and education“ stellt die IOM in ihrem aktuellen „Issue Brief“ fest.32 Betroffene sind auch jene „Gastarbeiter*innen“, die in den europäischen Arbeitsmärkten als Billigarbeitskräfte über Leiharbeitsfirmen tätig sind, insofern sie häufig in Substandard-Massenquartieren mit völlig unzureichender Hygieneinfrastruktur untergebracht sind. Auch während der Krise bestanden die katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen der „capolarato“ in den von der Mafia kontrollierten Sektoren der italienischen Agrarwirtschaft fort.33 Um diese Gruppe herum haben sich während der Pandemie immer wieder sich rasch ausbreitende Infektionsherde gebildet.34 Eine große Zahl von Gast- und Wanderarbeiter*innen – etwa in Indien oder in lateinamerikanischen Ländern – haben im Gefolge der Pandemie ihre Jobs und damit ihre gesamte Lebensgrundlage verloren; hier hat z.T. eine massenhafte Remigration in deren Herkunftsorte und -länder eingesetzt.35 Auf einen weiteren ökonomischen Aspekt, der die Familien von Gast- und Wanderarbeiter*innen in ihrer Lebensgrundlage trifft, macht die IOM aufmerksam: Die Rücküberweisungen (remittances) von Verdiensten der Migrant*innen in ihre Herkunftsländer, die Überlebensgrundlage von deren Familien und einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor für diese Herkunftsländer darstellen, werden einbrechen.36
Flüchtlinge und Migrant*innen, v.a. jene, die unter lagerähnlichen Bedingungen leben, gehören zu den bes. vulnerablen Gruppen, die unter den Auswirkungen einer Ansteckung bzw. eines Ansteckungsherdes in ihrer Umgebung bes. zu leiden haben. In vielen Fällen fehlen ihnen aufgrund ihrer Lebensbedingungen die Möglichkeiten, die grundlegenden Schutzmaßnahmen gegen das Virus einzuhalten. Der überdurchschnittliche Anteil an Obdachlosigkeit, oft ungenügende sanitäre Bedingungen, eine überdurchschnittlich schlechte gesundheitliche Verfassung und der häufig eingeschränkte Zugang zum Gesundheitssystem stellen wesentliche Risikofaktoren dar, die – laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) – Migrant*innen und Geflüchtete in bes. Maße betreffen.37 Aus diesem Grund stellt die WHO folgende Forderungen an die Gesundheitsbehörden ihrer Mitgliedsländer:
- „das Risiko einer Einschleppung und Ausbreitung von COVID-19 in Flüchtlingslagern zu bewerten;
- den Zugang zu Sicherheit, Gesundheitseinrichtungen und Informationen zu gewährleisten;
- sämtliche Hindernisse für den Zugang zu Gesundheitsangeboten, darunter auch sprachliche und physische Barrieren, sowie rechtliche, administrative und finanzielle Beschränkungen zu beseitigen;
- erzwungene Rückführungen aufgrund der Angst vor oder des Verdachts einer COVID-19-Übertragung zu vermeiden und zu gewährleisten, dass Flüchtlinge und Migranten nicht stigmatisiert werden, damit sie keine Angst davor haben, sich behandeln zu lassen oder mögliche Symptome zu offenbaren.“38
Fünftens: Religionsspezifische Herausforderungen und eine christliche Perspektive
Migrations- und Fluchtbewegungen generieren bereits seit vielen Jahren in den europäischen Gesellschaften – neben sozialen, wirtschaftlichen und politischen – auch spezifisch religiöse Entwicklungs- und Veränderungsprozesse, die für alle Beteiligten bes. Herausforderungen mit sich bringen. Sie machen zum einen eine gesellschaftliche Entwicklung sichtbar, die keineswegs nur durch Migration bedingt ist: religiöse wie weltanschauliche Pluralität und Unterschiedlichkeit in urbanen Zentren, aber in wachsendem Ausmaß auch im ländlichen Raum. Damit gewinnen interreligiöser Dialog und interreligiöse Zusammenarbeit als konstruktive Alternative zu defensiven Reaktionsmustern immer mehr an Bedeutung.
Ich möchte aus der praktischen Erfahrung in der interreligiösen Zusammenarbeit drei Thesen ableiten, die solche religionsspezifischen Herausforderungen benennen:
Erste These: Vielfach wurden und werden Projekte für interreligiösen Dialog von Institutionen der katholischen Kirche initiiert und durchgeführt. Damit spiegeln sie – meist unbewusst – jenes (Macht-)Gefälle wider, das de facto in der Gesellschaft zwischen Angehörigen der Mehrheit und jenen Menschen besteht, die Minderheitengruppen angehören. Die katholische Kirche in Österreich besitzt unter den Religionsgemeinschaften bei weitem die größten Ressourcen an Personal und Finanzen und hat in vielen Bereichen eine privilegierte Stellung inne. Fruchtbare interreligiöse Zusammenarbeit muss jedoch auf längere Sicht auf Augenhöhe praktiziert werden, soll sie nicht in einen caritativen oder gar vereinnahmenden Gestus abgleiten. D.h. hier braucht es Rahmenbedingungen in der Kooperation, die dieses makrogesellschaftliche Gefälle im mikrogesellschaftlichen Bereich zumindest teilweise ausgleichen: z.B. neutrale Orte als Treffpunkte, ausgeglichene Verfügungs- und Entscheidungsstrukturen über Personal, Finanzen etc.
Zweite These: Der interreligiöse Dialog erweitert sich zunehmend zu einem „gesamtökumenischen Weltanschauungsdialog“, der sich bereits aus der faktischen Zusammensetzung von Gesellschaft heraus entwickelt. Auch in diversen Projekten interreligiöser Zusammenarbeit zeigt sich eine wachsende Beteiligung von Menschen ohne religiöse Bindung: D.h. es ist wichtig, diesen Dialog als ein Vieleck zu verstehen. Er spielt sich zwischen Muslim*innen, Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften wie Hindus oder Buddhisten, Christ*innen verschiedener Konfessionen und schließlich Menschen ohne religiöse Bindung ab.
Dritte These: Die gemeinsame normative Grundlage interreligiöser Zusammenarbeit kann nicht das Bekenntnis zu einem spezifischen weltanschaulichen Grundsatz oder einer religiösen Norm sein. Vielmehr bietet sich dafür das gemeinsame Bekenntnis zu den Menschenrechten und im Besonderen zum Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit an. Dafür braucht es allerdings die Fähigkeit, andere, den eigenen widersprechende religiöse oder weltanschauliche Grundsätze wertschätzend zu akzeptieren. Darüber hinaus bedarf es innerhalb der eigenen Religion oder Weltanschauung Freiheit zur Diversität der (religiösen) Anschauungen und Praxen. Religiöse bzw. weltanschauliche Fundamentalismen verstellen in der Regel den Zugang zur interweltanschaulichen / interreligiösen Zusammenarbeit. Dies gilt für einen wachsenden Konservativismus in den Religionsgemeinschaften, aber nicht zuletzt auch für den wachsenden säkularistischen Gestus, den Vorurteilsmuster von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft speziell gegenüber muslimischen Gemeinden und Organisationen annehmen. Kontroversen rund um Kopftuch, einen politisierten Islam, öffentlich sichtbare Gebetsräume oder -häuser reproduzieren des Öfteren in höherem Ausmaß Vorurteilsmuster gegenüber ausschließlich über ihre Religion definierten Minderheiten als eine reflektierte Kritik religiöser Fundamentalismen.
Über eine vertiefte interreligiöse Zusammenarbeit mit Mitgliedern und Gemeinschaften anderer Religionsgemeinschaften hinaus eröffnen Christ*innen und christliche Kirchen im Wahrnehmen und Gestalten von Migrations- und Fluchtbewegungen noch zwei besondere Chancen:
Sie bringen einen seit Jahrzehnten gewachsenen Erfahrungsschatz in der Begleitung und Unterstützung von Geflüchteten mit, der in der Regel mit einer authentischen Option für die Inklusion und Beteiligung von Menschen mit Fluchterfahrungen verbunden ist. Daraus erwächst eine Kompetenz und eine gesellschaftliche Wirkmacht, die rund um die Fluchtbewegungen 2015 bes. spürbar geworden ist39 und die für die weitere Inklusion – gerade auch von anerkannten Flüchtlingen in Österreich – von unschätzbarem Wert ist.40 Im Rahmen dieser Bewegung(en) kommt es auch immer wieder im Falle von drohenden Abschiebungen in bes. Härtefällen zu einzelnen Aktionen von „Kirchenasylen“, in denen die bes. Verantwortung der Kirchen für von ihnen betreute Geflüchtete ihren öffentlichen und politischen Ausdruck findet.41
Die biblische und theologische Tradition der Kirchen eröffnet darüber hinaus einen (religions-)spezifischen Blick auf das Themenfeld Migration und Flucht: Im Besonderen in der biblischen und praktischen Theologie wurden in den letzten Jahren vielfältige Ansätze einer „Theologie der Migration“ entwickelt, die der Praxis der christlichen Kirchen eine Grundlage theologischer Reflexion bieten können. Die biblische Tradition des Ersten Testaments beschreibt viele ihrer zentralen Gotteserfahrungen im Kontext von Migrationserfahrungen: in den Modi von Aufbruch, Auswanderung, Exodus, (Wüsten-)Wanderungen, Ankommen, Einwanderung und neuerlichem Exil.42 In den Evangelien des Zweiten Testaments wird die frühe Jesusbewegung deutlich in ihrem Spannungsfeld zwischen einer Bewegung nicht sesshafter wandernder Jünger*innen, Apostel und Prophet*innen, die in einem Spannungsverhältnis zu stabilen Ortsgemeinden standen.43
Aufbruch Im institutionellen Bereich haben die Kirchen dieses Themenfeld bereits seit Jahrzehnten als zentrales Aufgabenfeld, als „Zeichen der Zeit“ wahrgenommen: in der Kath. Kirche durch die unter Papst Paul VI. bereits 1970 gegründete Päpstliche Kommission sowie durch zahlreiche offizielle Dokumente – zuletzt die durch den Päpstlichen Rat „Cor Unum“ herausgegebenen seelsorglichen Richtlinien „In Flüchtlingen und gewaltsam Vertriebenen Christus aufnehmen“44; auf ökumenischer Ebene die Botschaft der Konferenz „Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und populistischer Nationalismus im Kontext globaler Migration“45 Zur Weiterentwicklung einer „Theologie der Migration“ verweise ich als Beispiel nur auf das Forschungsschwerpunkt „Migration und Religion“ am Institut für Praktische Theologie an der Universität Wien.46
Als abschließende Zusammenfassung möchte ich mir die Vision zu Eigen machen, die in den seelsorglichen Richtlinien „In Flüchtlingen und gewaltsam Vertriebenen Christus aufnehmen“ zum Ausdruck gebracht wird: „Es ist erforderlich eine angemessene Antwort auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge und gewaltsam Vertriebenen zu geben, sich mit bestehenden Verhaltensweisen und Diskriminierung, mit Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus auseinanderzusetzen, und für Maßnahmen zu arbeiten, die ihre Rechte sichern, stärken und schützen. Durch das Engagement der Gläubigen werden sich neue Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft herausbilden, Kontakte auch mit nicht-christlichen religiösen Gemeinschaften werden wachsen und sich verstärken und die Zusammenarbeit zwischen der Kirche des Herkunfts- und des Aufnahme-Landes wird sich entwickeln.“47