Was ist regionale Menschenrechtsarbeit? Eine Einleitung

Für eine lange Zeit seit dem 10. Dezember 1948 waren die Menschenrechte von einer Aura des Unantastbaren umgeben. Niemand aus der Mitte der Gesellschaft – sei es in Österreich oder in einem anderen Land der EU – hätte ihre Legitimität und Geltung öffentlich in Frage gestellt. Zu deutlich waren der Epochenbruch und die Vernichtung humanistischer Grundannahmen durch nationalsozialistischen Terror und Shoah noch im Gedächtnis der Gesellschaft gegenwärtig. Diese Phase scheint der Vergangenheit anzugehören. Abschottung an den EU-Außengrenzen, massive Verschlechterungen der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge, Vorurteile gegen Menschen mit Migrationsgeschichte, die als „Muslime“ etikettiert werden – unabhängig von ihrer subjektiven Einstellung zu Religion, wachsender Alltagsrassismus, rechtsextremes Vokabular, das in den Diskurs der politischen Mitte Eingang gefunden hat, sind scheinbar selbstverständlich geworden.

Die sich für Menschenrechte engagieren, gewinnen den Eindruck: Kaum jemals zuvor ist die praktische Arbeit für die Verwirklichung der Menschenrechte notwendender gewesen als jetzt.

Unabhängig von Jubiläen betrachte ich diesen Zeitpunkt für ein Buch über regionale Menschenrechtspraxis als den richtigen. Menschenrechte sind vor allem als internationales Thema im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sie werden zur Herausforderung, wenn sie als Recht auf Asyl für nach Europa Geflüchtete oder als Recht auf Gleichbehandlung von Migrant*innen, Muslim*innen oder „Armutsmigrant*innen“ eingefordert werden. Hier verschränken sich Globalität und Regionalität. Jedoch: Was ist nun regionale Menschenrechtsarbeit? Betrachten wir kurz die drei Worte, die der Begriff umfasst:

Was heißt „regional“?

Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten in österreichischen Städten und Gemeinden ein vielfältiges Netz von Menschen, Gruppen und Organisationen gebildet, die sich vor Ort – also in ihrem Heimatort, in ihrem Stadtteil, in ihrem sozialen Umfeld – für Menschenrechte engagieren. „Regional“ meint also, dass diese Form der Menschenrechtspraxis sich „von unten“, in einem sozial und/oder geographisch begrenzten Gebiet entwickelt. Sie spielt sich auf einer anderen Ebene ab als globale, kontinentale1 oder nationale Menschenrechtsarbeit und bleibt auf ein best. Bundesland, eine Stadt, eine Gemeinde oder sogar auf einen Stadt- bzw. Ortsteil begrenzt. Dennoch steht sie in keinem Widerspruch zur Universalität und allgemeinen Gültigkeit der Menschenrechte. Wenn Heiner Bielefeldt vom Aufstehen der Hindu-Frauen während einer Versammlung im nationalen Hindu-Tempel von Dhaka erzählt, beschreibt er exakt dieselbe regionale Praxis wie die der Frauengruppe im Rahmen des Armutsnetzwerkes in Vöcklabruck. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Im Kontext europäischer Einwanderungsgesellschaften verwirklicht regionale Menschenrechtspraxis diese Universalität, indem sie ihre Realisierung für alle Menschen vor Ort einfordert. Der Begriff ist unscharf, weil sich diese Form der Menschenrechtspraxis v.a. in informellen zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen entwickelt, die nicht unbedingt auf formale Kompetenzbereiche oder Grenzen der politischen Zuständigkeit Rücksicht nehmen. Drei Merkmale lassen sich ihr durchgängig zuschreiben: Diese Menschenrechtspraxis ist lebens- und sozialraumorientiert, und sie entsteht aus direkten Erfahrungen von unten: aus der direkten Betreuung von Flüchtlingen in einer Gemeinde, aus dem Konfrontiertsein mir obdachlosen Notreisenden, aus der interreligiösen Zusammenarbeit mit muslimischen Gemeinden im Stadtteil usf.

Was heißt „Menschenrechte“?

Eine scheinbar banale Frage, die jedoch sofort ihre Komplexität offenbart, sobald konfligierende, scheinbar einander ausschließende menschenrechtliche Ansprüche in der Praxis auftauchen. Ein Beispiel dafür: Was bedeutet es für die über Jahre gewachsene Kooperation mit muslimischen Gemeinden und Vereinen, wenn Geflüchtete aus muslimischen Staaten, die sich als nicht religiös verstehen, von Angehörigen der muslimischen Community in der Stadt in sozialen Medien deshalb gemobbt werden? Noch häufiger sind Menschenrechtsaktivist*innen in ihrem Umfeld mit Diskursen konfrontiert, in denen die Menschenrechte nicht als absolut und unteilbar gelten, sondern gegeneinander verrechnet werden: „Keine Moschee in unserer Gemeinde, solange es in Saudi-Arabien keine Kirchen geben darf!“ – „Kümmert Euch gefälligst um die Menschenrechte für unsre Leute, nicht immer nur um die Flüchtlinge!“ Darüber hinaus ist die regionale Menschenrechtspraxis nicht allein an gesetzlich definierten Grundrechten orientiert, sondern stellt sich dem Anspruch, den der normative Rahmen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder andere, die Erklärung konkretisierende Deklarationen wie etwa die Europäische Charta für den Schutz der Menschenrechte in der Stadt darstellen. Die Europäische Charta z.B. formuliert den bes. Schutz für die verletzlichsten Bevölkerungsgruppen in der Stadt als Formalbestimmung, die alle anderen Selbstverpflichtungen der Charta nochmals konkretisiert.2 Wie verhält sich nun die Regierung einer Menschenrechtsstadt gegenüber Notreisenden aus Südosteuropa, die in der Stadt betteln und gegen die von den klassischen wie den sozialen Medien und der „öffentlichen Meinung“ mobil gemacht wird?

Was heißt „Praxis“?

Zivilgesellschaftlich getragene Menschenrechtspraxis beschränkt sich in der Regel nicht auf den engeren, justiziablen Bereich von rechtlich definierten Grundrechten, sondern benennt jene Problembereiche, wo der ideelle Anspruch der Menschenrechte nicht eingelöst oder gar verletzt wird. Sie formuliert in „Schattenberichten“, permanenten informellen Monitorings, in veröffentlichten Berichten, Expertisen oder Stellungnahmen strukturelle Defizite, Handlungsbedarfe und Veränderungsnotwendigkeiten. In diesem Buch werden beispielhaft vier Problembereiche behandelt, die in der regionalen Menschenrechtspraxis eine zentrale Rolle spielen: Rassismus, Flucht und Asyl, Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie Armut. Es könnten wesentlich mehr sein, doch Umfang und Lesbarkeit eines Buches zwingen zu dieser Auswahl.

Regionale Menschenrechtspraxis legt den Schwerpunkt auf jene, für die das Versprechen der Menschenrechte auf Freiheit und Gleichheit am wenigsten eingelöst ist: die verletzlichsten Menschen und Menschengruppen in einem sozialen oder geographischen Lebensraum. Denn was haben illegalisierte Geflüchtete, Sexarbeiter*innen aus Rumänien oder Frauen aus Somalia, die wegen ihrer Hautfarbe und Kleidung auf der Straße beschimpft werden, vom Konzept eines selbstbestimmten bürgerlichen Subjekts als Träger von Menschenrechten? Die Orientierung an Verletzlichkeit hat eine Neubestimmung der modernen Leitidee des autonomen und souveränen Subjekts eingeleitet: Die wird zum Gegenbegriff gegen die Konzentration auf Selbstbestimmtsein, die die Erfahrungswelt männlicher, weißer, autochthoner Menschen bestimmen mag, aber nicht die von Frauen, Coloured People oder Zugewanderten.3 Darüber hinaus: Verletzlichkeit ist ein ontologisches Faktum, das allen Menschen gemeinsam ist. Sie ist Teil der Erfahrung jedes Menschen und kann im Leben aller – auch der Stärksten, Geschütztesten, Intergriertesten, Besten – bestimmend werden. Sie ist keine Bestimmung, die zu Kategorisierung führt – im Unterschied zu Begriffen wie etwa „Flüchtlinge“, „Ausländer“, „Behinderte“, Bettler“ usf.4 Menschenrechte bleiben eine abstrakte Norm, ein rechtlicher Rahmen, der in den Erfahrungswelten der Menschen keine Rolle spielt, wenn sie nicht „verortet“ sind, d.h. wenn sie nicht von engagierten Menschen in meiner Nachbarschaft, in meinem Viertel, in meiner Gemeinde, in meiner Stadt eingefordert und gelebt werden – und zwar für alle, vor allem für jene, denen sie am wenigsten zugebilligt werden.

Diesen Menschen ist das Buch gewidmet. Sie bilden die Träger*innen einer lebendigen und bunten Menschenrechtskultur in Österreich wie in ganz Europa. Hier kommen stellvertretend für alle einige von ihnen zu Wort: mit ihren Erfahrungen, mit den Problemen, denen wir als Gesellschaft gegenüberstehen, den Antworten, die sie darauf suchen, und mit den Perspektiven, die sie für die Gesellschaft entwickeln.

Ich danke allen, die zum Zustandekommen dieses Buches beigetragen haben, besonders den Autor*innen, dem Verlag, Land und Stadt Salzburg, den Kolleg*innen der Plattform für Menschenrechte Salzburg sowie Josef Bruckmoser und Hannah Mautner für wertvolle Hinweise und Korrekturen.

Josef P. Mautner (Hg.)
Regionale Menschenrechtspraxis
Herausforderungen – Antworten – Perspektiven
17.00 €
320 Seiten
Format: 13,5×21
ISBN: 978385476-578-3
Erschienen: November 2018


Informationen und Erläuterungen

Unter diesem Link finden Sie ausgewählte Informationen und Erläuterungen zu in den Beiträgen dieses Buches genannten Sachbereichen regionaler Menschenrechtspraxis.


1 Kontinentale Menschenrechtsarbeit wird in der Fachsprache oft ebenfalls als „regionale“ benannt. Als „regionale Systeme des Menschenrechtsschutzes“ werden z.B. die Arabische Charta der Menschenrechte oder die ASEAN-Deklaration der Menschenrechte bezeichnet. Siehe: http://www.humanrights.ch/de/internationale-menschenrechte/regionale/.

2 In Art. IV der Charta: „Schutz der schwächsten und verletzlichsten Bevölkerungsgruppen und Einzelpersonen“. In Teil I („Allgemeine Bestimmungen“) werden sieben Prinzipien formuliert (wie z.B. das Prinzip der Gleichberechtigung, die Verpflichtung zur Solidarität oder das Subsidiaritätsprinzip), die als Formalbestimmungen für die Selbstverpflichtungen in den folgenden Artikeln der Charta fungieren. Siehe: https://www.nuernberg.de/internet/menschenrechte/staedte_fuer_menschenrechte.html.

3 Siehe u.a.: Judith BUTLER: Lecture on Vulnerability and Resistance (Los Angeles, 4.3.2015); online: www.redcat.org/event/judith-butler-vulnerability-and-resistance.

4 Zu „Verletzlichkeit“ als ontologischer Begründungskategorie für die Menschenrechte siehe: Bryan S. TURNER: Vulnerability and Human Rights. University Park 2006.

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