Anstelle des Artikels „Religion“ im „Bernhard-Handbuch“ finden Sie hier ein Referat, gehalten im Rahmen der 24. „Thomas-Bernhard-Tage“, 12./13. Oktober 2018 in St. Veit:
Gottesverzweiflung im Leiden. Zu religiösen Themen in der frühen Lyrik von Th.B.
Josef P. Mautner
Ich möchte Ihnen in der gebotenen Kürze der Zeit einige Überlegungen zu drei religiösen Themenstellungen in der frühen Lyrik Th.B.s vortragen: „Gottesanrede und Gottesverzweiflung“ – „die christliche Rezeption der Lyrik“ – „einige Anmerkungen zum Topos Hölle“.
Zunächst jedoch 2 mir notwendig erscheinende Vorbemerkungen:
Vorbemerkungen:
Th.B. hat, wie er in einem Brief an seinen Verleger Siegfried Unseld vom 21.6.1981 im Rückblick feststellt, zu Beginn der sechziger Jahre den Entschluss gefasst, mit dem Schreiben von Gedichten aufzuhören.1 Vor diesem Bruch muss die Lyrikproduktion Bernhards im Zeitraum zwischen 1948 und Ende 1961 äußerst umfangreich gewesen sein, wie der Herausgeber des Gedichtbandes der Werkausgabe, Raimund Fellinger im Anhang feststellt: „Mehrere tausend Blätter sind erhalten, Typoskripte mit Sammlungen von Gedichten sowie Gedichtzyklen und Einzelgedichte in umfangreichen handschriftlichen Überarbeitungen, gleichfalls Manuskripte mit Gedichtentwürfen“2 – u.a. auch der Gedichtband mit dem Titel „Frost“, der vom Otto-Müller-Verlag nicht zur Publikation angenommen worden war.
Die Struktur, die der Band 21 der Werkausgabe dem lyrischen Werk gegeben hat, bietet eine Orientierung: Dort sind zunächst die verstreut publizierten Gedichte 1952-1957 zusammengefasst, anschl. die drei in kurzer Folge 1957/58 publizierten Gedichtbände „Auf der Erde und in der Hölle“, „In hora mortis“ sowie „Unter dem Eisen des Mondes“. 1960 und 1962 erschienen 2 Privatdrucke in geringer Auflage: „Psalm“ und „Die Irren Die Häftlinge“. Jene Gedichte, die 1959 bis 1963 in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien erschienen, sind zur Gänze früher entstandenen, unveröffentlichten Lyriksammlungen entnommen. Auf Drängen von Siegfried Unseld veröffentlichte Th.B. 1981 „Ave Vergil“ in der Bibliothek Suhrkamp. Für den Text entnahm er jeweils wenige Zeilen bis zu Abschnitten von unterschiedlichen Gedichten und integrierte sie in diesen Text.
Paola Bozzi hat in ihrer Monographie Ästhetik des Leidens. Zur Lyrik Thomas Bernhards zwei Hauptphasen der Lyrikproduktion B.s unterschieden: Die erste, mehr „subjektive“ und „ich-zentrierte“ sei mit dem letzten der drei Gedichtbände abgeschlossen und mit „Ave Vergil“ sei eine andere, neue „polyphone“ Form der Lyrik hervorgetreten. In der Insel-Bücherei erschien 1987 nach längerem Hin und Her eine Wiederveröffentlichung des Bandes „In hora mortis“. Darauf möchte ich noch zurückkommen, da mir die Bedenken B.s gegen eine Wiederveröffentlichung für seine spätere Position gegenüber den religiösen Motiven im Frühwerk charakteristisch erscheinen. In meinen Überlegungen werde ich mich auf die beiden publizierten Gedichtbände „Auf der Erde und in der Hölle“ und „In hora mortis“ konzentrieren.
Darüber hinaus erscheint mir eine kurze Vorbemerkung zur Publikationsgeschichte des ersten Gedichtbandes unerlässlich. Denn vor dessen Erscheinen wurden seitens des Verlages bzw. seiner Berater weitreichende Eingriffe in das von B. eingereichte Manuskript vorgenommen. Ich beschränke mich hier auf jene, die sich auf die religiösen Motive in B.s Gedichten beziehen. Der kath. Erwachsenenbildner Ignaz Zangerle hatte – neben anderen – für den katholischen Otto-Müller-Verlag eine Beurteilung des Manuskripts aus katholisch-kirchlicher Perspektive abzugeben, sprach sich für die Publikation aus, monierte jedoch u.a. Formulierungen in einzelnen Gedichten, die von den Leser*innen als „Blasphemien“ aufgefasst werden könnten. Der zweite Gedichtband „In hora mortis“ konnte, was den Inhalt betrifft, weitgehend unverändert nach B.s Manuskript gedruckt werden. Nur die Form (Gedichtzeilen mit jeweils nur 1 oder 2 Worten) löste bei einem weiteren „Zensor“ des Otto-Müller-Verlages Irritation aus und B. änderte sie in die schließlich gedruckte Form um.
Ich komme nun zu den drei religiösen Themenbereichen, zu denen ich einige Überlegungen anstellen möchte:
Erstens: „Gottesanrede und Gottesverzweiflung“:
Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass B. in seinem frühen Werk stärker auf religiöse Begriffe und Inhalte bezogen war, während er später v.a. das gesellschaftlich prägende Phänomen einer institutionalisierten Religion und deren Auswirkungen auf den Einzelnen beschrieb – so etwa in der für ihn spezifischen Verknüpfung von Katholizismus und Nationalsozialismus. Paola Bozzi hat in ihrer Monographie Natur, Leiden und Tod als zentrale Themen für die drei veröffentlichten Bände der frühen Lyrik (Auf der Erde und in der Hölle, 1957; In hora mortis, 1958/1987; Unter dem Eisen des Mondes, 1958) herausgearbeitet 3. Vielfältig formulierte Leiderfahrungen verbinden sich in Bernhards früher Lyrik u.a. mit der Erfahrung der Fragilität von Heil- und Erlösungsversprechen, wie sie ihm im religiösen Kosmos des katholischen Christentums entgegentraten. Sie wurden in den Gedichten zum Raum einer fortschreitenden Verzweiflung an einem Gott, der in der frühen Lyrik noch als wirklich angenommen wird und deshalb auch im Gedicht angerufen werden kann. In dem Gedicht „Biographie des Schmerzes“ etwa (das 2. im 3. Abschnitt >„Die Nacht, die durch mein Herz stößt“< von „Auf der Erde und in der Hölle“) spricht B. von seinen „Verzweiflungen“ und „Schmerzen“ im Zusammenhang seiner Welterfahrung. Der Bogen des Gedichtes spannt sich von der formulierten Leiderfahrung bis zur Hoffnung auf Geborgenheit: Das lyrische Ich stellt am Schluss des Gedichtes fest:
„Während sie Fleisch und Ruhm verwechseln, schläft meine Seele
unter der Handbewegung Gottes.“4
Die religiösen Bezüge in den ersten beiden erschienenen Gedichtsammlungen sind vielfältig: In dem Band „In hora mortis“ ist die Anrede „Gottes“ bzw. des „Herrn“ sogar durchgängig, was den Gedichten eine Nähe zur Gebetsform verleiht. Durch das Zitieren von zentralen Gebetstexten des Christentums wird der religiöse Bezug in beiden Bänden bereits im Titel explizit gemacht: in der ersten Sammlung durch den parodistischen Bezug auf die Vaterunser-Bitte „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“. Die Parodie im Titel lautet eben: „Auf der Erde und in der Hölle“. Im 1963 erschienenen Roman „Frost“ ebenfalls auf das Vaterunser Bezug: Dort formuliert die Hauptfigur, der Maler Strauch, ein „umgekehrtes Vaterunser“, in dem alle sieben Bitten und alle weiteren Aussagen des Gebetes in ihr Gegenteil verkehrt sind. 5 Statt „Auf der Erde und in der Hölle“ heißt es dort: „Wie in der Hölle, also auch auf Erden.“ In der zweiten Gedichtsammlung wird die Beziehung durch das direkte Zitat einer Passage des lateinischen Gegrüßet seist Du, Maria hergestellt: „Ora pro nobis peccatoribus – in hora mortis nostrae!“. Darüber hinaus finden sich im mittleren Abschnitt des ersten Gedichtbandes die „Neun Psalmen“, die durch ihre Bezeichnung den Bezug zu einer biblisch begründeten Gattungstradition herzustellen scheinen.
Hier bleibt allerdings zu bedenken, was ich eingangs bemerkt hatte: Vor der Publikation wurde gerade auch bei den religiösen Motiven im Text „korrigierend“ und glättend eingegriffen. Cornelius Hell, der als Mitarbeiter des Verlags Zugang zum Originalmanuskript hatte, urteilt, was die Eingriffe des Verlags in die religiösen Motive des Gedichtbandes betrifft: „Der positive Bezug auf Gott und Religion blieb erhalten, die ebenfalls dichten (und sprachlich kreativeren!) Absagen wurden weitgehend getilgt.“6 Dennoch bleibt auch im Bestand der letztendlich publizierten Gedichte m.E. eine Ambivalenz zwischen der formulierten Sehnsucht nach Heil und der bewussten, tw. auch ironischen Brechung religiösen Sprechens bestehen. In dem bereits angesprochenen Gedicht „Biographie des Schmerzes“ hört das lyrische Ich auf Gott und den Teufel zugleich „und beide erreichen zusammen mein Herz“. Darüber hinaus ist es kein Zufall, dass die parodistische Variation des „Vater unser“ im Titel die Hölle an die Stelle des Himmels gesetzt hat. Dazu später noch mehr.
In der späteren Wahrnehmung und Beurteilung der Gedichte durch Th.B. selber ist diese Ambivalenz zwischen Verzweiflung und Geborgenheit in Gott allerdings aufgelöst. Die Gottesbezüge betrachtet er als obsolet, und es bleibt die Verzweiflung allein. In einer Passage der autobiographisch geprägten Erzählung „Die Kälte“ bezeichnet er seine Gedichte als „Produkte eines achtzehnjährigen Verzweifelten, der außer diesen Gedichten nichts mehr zu haben schien.“7
Die zweite Sammlung „In hora mortis“ ist von der Form der Gedichte her als ein Zyklus von Gebetsanrufungen gestaltet. Ausnahmslos jedes der 20 Gedichte richtet sich an „Gott“ bzw. den „Herrn“. In diesem Zyklus ist m.E. die vor dem Hintergrund der Leiderfahrungen entwickelte Ambivalenz von angestrebtem Gottvertrauen und Verzweiflung angesichts ausbleibenden Heils am konsequentesten ausgeführt. Ich benenne nur als 1 Beispiel das Gedicht „Morgen Herr bin ich bei dir“ aus dem III. Teil der Sammlung. Das lyrische Subjekt beschreibt das künftige Einssein mit Gott als ein „Fern der Welt sein“, von der es nicht mehr gebraucht wird. Es hofft auf einen Frühling, der aus diesem Winter wächst, und dass es Mohn gewinnen könne aus schwarzen Krügen, „die längst zu Asche (geworden) sind“.8
Das letzte Urteil über die Gottesmotivik in seiner frühen Lyrik möchte ich jedoch Th.B. selbst sprechen lassen. Er schreibt im Kontext der Wiederveröffentlichung von „In hora mortis“ in einem Brief vom 24.10.1980 an die Lektorin Maria Dessauer:
„Ich selbst erschrecke heute vor dem Wort ‚Herr‘ und ‚Gott‘, wenn ich auch die ‚Hora mortis‘ für eine gelungene Arbeit halte, auch was den Textaufbau betrifft. Der Inhalt entspricht nicht meinem Geisteszustand seit weit über zwanzig Jahren.“9
Zweitens: „Zur christlichen Rezeption: Lässt sich B.s frühe Lyrik als Gebet oder als Gedicht lesen?“
Wenig überraschend ist, dass die christliche bzw. theologische Rezeption der Lyrik von Th.B. sich im Wesentlichen auf die Psalmtexte sowie auf den Band „In hora mortis“ konzentrierte. Die Psalmtexte fanden in mehrere Interpretationen und Textsammlungen moderner Psalmlyrik Eingang, die von christlichen TheologInnen veranstaltet wurden.10 Darüber hinaus wurden 2 der „Neun Psalmen“ bei einer kath. Seelenmesse für Th.B., die 4 Monate nach seinem Tod (16.6.1989) in der Stadtpfarrkirche Gmunden zelebriert wurde, vorgetragen.
Ich möchte im Folgenden 2 Fragen nachgehen, die durch eine solch christliche Rezeption aufgeworfen werden:
Wie weit ist der Bezug zur biblischen Gattung der Psalmen für das Verständnis der „Neun Psalmen“ konstitutiv? Die Theologin Susanne Gillmayr-Bucher hat in ihrer Habilitationsschrift den umfänglichen Versuch unternommen, die „Neun Psalmen“ unmittelbar auf die Motivfelder und Sprachgestalt der biblischen Psalmen zurückzuführen.11 Mein Eindruck bei der Lektüre war: Bei all den möglichen inhaltlichen Parallelen, die Gillmayr-Bucher schildert und die der Sprachgestus der Psalmtexte B.s zulässt – eine solch unvermittelte Rückbeziehung auf die biblische Psalmgattung, wie sie sie vornimmt, verkennt m.E., dass B. sich mit seinen Texten in 1. Linie auf die literarische Tradition der >expressionistischen und nachexpressionistischen< Psalmlyrik bezieht – eine Lyrik, die sich explizit aus der biblischen wie christlichen Tradition gelöst hat, ja teilweise (wie etwa im Falle der Psalmgedichte Bertolt Brechts!) gegen diese Tradition formuliert ist. Im Besonderen erscheint es mir plausibler anzunehmen, dass – wie Hell/Wiesmüller12 oder Chiara Conterno13 betonen – die Psalmgedichte Georg Trakls und die gebetsartige Lyrik von Christine Lavant Einfluss auf B. ausgeübt haben.
An die erste Frage schließt unmittelbar eine zweite an: Kann man aus der gebetsförmigen Sprachgestaltung dieser Gedichte schließen, dass sie auch dem kommunikativen Geschehen eines Gebetes entsprechen – d.h. kann man sie als Anrufung Gottes oder als Gespräch mit Gott verstehen? Wie ich bereits im ersten Teil zu zeigen versuchte, hat Th.B. in seiner späteren Rezeption der Gedichte dieses Verständnis für sich ausgeschlossen und – wie er an Elisabeth Borchers schrieb – „den lieben Gott aus seinen Texten verjagt“. Für die Texte selbst halte ich die bereits ausgeführte Ambivalenz zwischen der Sehnsucht nach Gottesgeborgenheit und Verzweiflung an der Gotteswirklichkeit für konstitutiv – und in dieser Ambivalenz bleibt die Gottesanrede immer eine gebrochene! Eines der deutlichsten Beispiele dafür ist das Gedicht „Mein Gebet hört Gott auch“ in dem Band „Unter dem Eisen des Mondes“, wo der Gestus des Gottvertrauens – beschworen in dem mehrfach wiederholten „Gott hört mich“ – regelrecht unterlaufen wird durch die immer düsterer werdenden Wirklichkeitsfragmente; zu ihnen setzt das lyrische Ich sein wiederholt beschworenes Gottzutrauen in Kontrast und lässt es so immer aussichtsloser erscheinen:
„Gott hört mich
In der Finsternis des Regens
Und auf den Wegen
Bittrer Gräser und blanker Steine
Über den Totenschädeln der Nacht
Die in meinen Träumen zerschellen
Aus Furcht. Gott hört mich
In jedem Winkel der Welt.“ 14
Drittens: „Einige Anmerkungen zum Topos ‚Hölle‘“:
Th.B.s Lyrik greift zwar – wie ich vorhin zu zeigen versuchte – Gattungsbezeichnungen und Stilmittel christlicher Gebetsliteratur auf, bricht jedoch konsequent mit deren inhaltlichen Konventionen. Auch die Wiederholung von religiös geprägtenWörtern und damit verbundenen Bildern, die Bernhard als ästhetisches Mittel anwendet, kann die angesprochene Ambivalenz im Gottesverhältnis verdeutlichen:
Am Beispiel der Verwendung des Wortes „Hölle“ möchte ich dieses Stilmittel etwas näher beleuchten. Dieser religiös konnotierte Begriff wird im ersten Lyrikband geradezu programmatisch verwendet. Auch wenn der Schwerpunkt – wie Paola Bozzi zurecht feststellt – auf dem „Programmwort“ ERDE liegt; ERDE ist das am häufigsten verwendete Wort in dem Band: Bozzi nennt 70 Belege: Dennoch bildet das Wort HÖLLE den zweiten, weniger häufigen, jedoch nicht weniger gewichtigen Schwerpunkt, und – was ich für bes. bemerkenswert halte – die wiederholte, sich häufende Verwendung dieses Wortes endet nicht mit dem Ende von B.s Lyrikproduktion! Es setzt sich über das weitere Prosawerk Th.B.s von „Frost“ über die autobiographischen Texte bis zu „Auslöschung“ kontinuierlich fort. Das Wort „Hölle“ kommt im ersten Gedichtband zunächst im Titel und schließlich in den Gedichten insgesamt 11mal vor. Auf der Erde und in der Hölle bezieht sich – wie gesagt – auf die Formel: ‚wie im Himmel so auf der Erde‘, die auf die dritte Bitte des „Vaterunser“ folgt. Sie bezieht sich im Gebet jedoch nicht nur auf diese, sondern auf alle drei vorangehenden Bitten und stellt sie in das Spannungsfeld zwischen der transzendenten Wirklichkeit („Himmel“) und deren Anspruch an die diesseitige Realität (die „Erde“). Dieses Spannungsfeld wird in der abgewandelten Formel, die der Gedichtsammlung Bernhards das Thema gibt, umgedreht. Die „Erde“ ist nun der Bezugspunkt, auf den die transzendente Realität hin ausgerichtet ist. Darüber hinaus ist die Wirklichkeit des Himmels in ihr scheinbares Gegenteil – die Hölle – verkehrt. Auch hier bewirkt die parodistische Transformation einen Bedeutungswandel des transzendenten Ortes, den sie bezeichnen soll: Die „Hölle“ ist hier nicht der Ort endgültiger, ewiger Verdammnis wie in der Glaubenstradition des Christentums, sondern ein Durchgangsstadium, ein „Weg“ des Prüfens und Geprüftwerdens, des Entscheidens und des Gerichts. Das Auftaktgedicht der Sammlung („Der Tag der Gesichter“) macht diesen Bedeutungswandel explizit und lässt zwei Stimmen einen Dialog über die Notwendigkeit jener Prüfung für das lyrische Ich führen: „Warum muß ich die Hölle sehen? Gibt es keinen anderen Weg / zu Gott? / Eine Stimme: Es gibt keinen anderen Weg! Und dieser Weg / Führt über den Tag der Gesichter, / er führt durch die Hölle“ (W 21, 49).
Inwieweit das Wort „Hölle“, wenn es in den späteren Prosatexten B.s Verwendung findet, nochmals einem Bedeutungswandel unterliegt, oder ob es in ebendiesem Sinne – also als Ort des Geprüftwerdens und existentiellen Ausgesetztseins – verwendet wird, wäre interessant, näher zu beleuchten.
Zusammenfassend möchte ich feststellen: In den ersten beiden Gedichtbänden spielen religiöse Themen und Motive durchaus eine wesentliche, jedoch keine ausschließlich bestimmende Rolle. Nicht die religiöse Weltsicht des lyrischen Ich bestimmt die Perspektive auf Leidens- und Todesmotive, sondern eine „Ästhetik des Leidens“, wie sie Paola Bozzi bezeichnet, prägt die Aneignung und Verwendung der religiösen Gattungs- und Motivtraditionen. Deshalb würde ich auch diese beiden Bände nicht als „religiöse Lyrik“ im engeren Sinne bezeichnen. B.s spezifische literarische Perspektive beruht m.E. – auch bereits in seiner frühen Lyrik – auf einer hohen Senisbilität für existentielle Sitautionen des Ausgesetztseins und der Verletzlichkeit. Erst im Zusammenhang mit dieser Perspektive entsteht eine Beschäftigung mit religiösen Themenfeldern und die für Th.B. spezifische Form ihrer literarischen Verarbeitung.
Die nicht publinzierte Gedichtsammlung „Frost“
Ich konzentriere mich auf das weniger Naheliegende und greife auf die im Zeitraum 1959/1960 entstandene, weitgehend unbekannt gebliebene Gedichtsammlung „Frost“ zurück. „Frost“ wurde – ebenso wie die beiden Gedichtbände „Auf der Erde und in der Hölle“ (1957) und „In hora mortis“ (1958) – von Thomas Bernhard beim Salzburger Otto Müller Verlag eingereicht, allerdings nicht publiziert. 15 Ein von Bernhard handschriftlich paginiertes und korrigiertes Typoskript war für längere Zeit beim Verlag archiviert gewesen. 16 In „Frost“ ist der Motivkanon religiöser Lyrik nicht so dominant wie bei „In hora mortis“, und wo explizit religiöse Bilder oder Symbole vom lyrischen Ich angesprochen werden, sind sie in einer noch wesentlich stärkeren Form verfremdet und gebrochen. 26 Gedichttexte der Sammlung enthalten explizit religiöse Motive. Neun Gedichte beziehen sich auf Nationalsozialismus und Krieg, drei davon verbinden diesen Bezug mit religiösen Motiven. 17 Die religiös geprägten Gedichte in „Frost“ lassen eine spezifische Transformation der Motivtraditionen erkennen und verweisen auf das antiästhetische Prinzip der Entgegensetzung. Ich greife als Beispiel das zweistrophige Gedicht „Karfreitag“ heraus: Der Titel legt zunächst eine der Konvention religiöser Lyrik gemäße Anknüpfung an die christliche Tradition der Karwoche nahe. Thema und Ausgangspunkt des Gedichtes ist – hier folgt auch die erste Zeile noch scheinbar der Tradition – der Tod Jesu Christi; besprochen wird darin, was der Sprecher aus diesem Tod für sein Denken und Handeln ableitet: „Weil Christus tot ist, / will ich meine Lehren / aus schwarzen Flüssen ziehn und aus verratenen Gräbern“ 18. Die beiden Metaphern der dritten Zeile umschreiben den Tod, ohne ihn nochmals explizit auf Christus zu beziehen: Möglich wäre also auch, dass die Lehren aus dem allgemeinen Faktum des Todes, nicht bloß aus dem des Todes Christi, gezogen werden. Dem Todesmotiv der Gräber wird das Adjektiv „verratene“ beigefügt, das durch den in der nächsten Zeile folgenden Motivbruch erklärbar sein könnte: Denn die religiöse Motivik wird hier, spätestens aber mit der vierten Zeile in eine rein säkulare überführt: Konsequenz des Faktums Tod ist für den Sprecher eine bejahende, „rühmende“ Hinwendung zur „Erde“, zu „Tälern“, „Furchen“, zum „Tanz der Eheleute“ und „Ruhm der Sterne“. Diese Diesseitsbejahung wird am Beginn der zweiten Strophe wieder aufgenommen („Mit dickem Auftrittsbier und Händlerspeck“) und der mit einem kirchlichen Ritual, dem „dumpfen Glockenschlag“, assoziierten „Frühe“ schroff entgegengesetzt. Das Gedicht setzt zwar einerseits einen Traditionsbruch – v.a. wenn es dem Karsamstagmorgen, dem heiligsten Trauertag im Christentum, der gleichzeitig strenger Fasttag ist, Bier und Speck entgegensetzt. Aber es bleibt mit den Motiven, die dem Todes- und Trauermotiv gegenübergestellt sind, dennoch der Sprachwelt einer traditionellen Heimatlyrik verhaftet. Erst die scheinbar unverbunden angefügten letzten drei Zeilen brechen diese Sprachwelt auf: Das sprechende Ich sieht „die ungeklärten Fälle weisser Überwinter“; die Metapher stellt eine Verbindung zwischen einem verfremdeten Naturbild („weisse Überwinter“) und einem Begriff aus der diesem Gedicht fremden Sprachwelt der Kriminalistik und/oder des Journalismus („ungeklärten Fälle“) her. „Überwinter“ und „Frost“ weisen – wenn sie an den zu Beginn der Strophe evozierten Karsamstagmorgen angefügt sind – auf eine kalte, möglicherweise tödliche Vergangenheit zurück, die den Kartagen vorangegangen ist. Was die durch den Stilbruch gerade in der Schlusszeile stark hervorgehobenen „ungeklärten Fälle“ beinhalten, bleibt (vielleicht bewusst?) offen – eben ungeklärt. Eine nicht verifizierbare Interpretationsrichtung, die sich auf einen möglichen latenten Bedeutungsgehalt dieser kalten Vergangenheit stützt: Die „weissen Überwinter“ könnten die Epoche von Krieg und Nationalsozialismus – v.a. des Vernichtungskriegs im Osten – mit ihren „ungeklärten“ Todes-„fällen“ (sowohl die in der Shoah wie in den Morden von SS und Wehrmacht ‚Verschwundenen’ als auch die an der Front Vermissten assoziierend) andeuten, ohne sie explizit zu benennen. In diesem Falle würden jene drei unvermittelt der zweiten Strophe angefügten Schlusszeilen die Atmosphäre des Verleugnens und Verdrängens wiedergeben, von der das Österreich der Nachkriegsjahre beherrscht war. Ein Indiz dafür ist die Formulierung „väterlicher Frost“ – angesichts dessen, dass in den neun weiteren Texten der Sammlung, die sich mit Krieg und Nationalsozialismus auseinandersetzen 19, ebenfalls mehrere Male das Vatermotiv damit in Verbindung gebracht wird. „Väterlicher Frost“ stützt den Verweis auf eine kalte Vergangenheit durch die Verbindung von Jahreszeitmotiv und Generationenfolge. Darüber hinaus enthalten die in den drei letzten Zeilen verwendeten Naturbilder im Alltagsdiskurs der fünfziger Jahre unter den ‚kleinen Leuten’ gängig gewesene Anspielungen für den Winterkrieg der nationalsozialistischen Armeen in der Sowjetunion: „väterlicher Frost“ kann mit einer russischen Redewendung, die unter Russlandheimkehrern sprichwörtlich geworden ist, mit „Väterchen Frost“ assoziiert werden (ohne die Bedeutungsebene mit dem Bezug auf eine ‚kalte, latent tödliche Vergangenheit’ damit zu konterkarieren!), die „finsteren Wälder“ mit den im Partisanenkrieg undurchschaubar und gefährlich gewordenen Wäldern Russlands, „Überwinter“ mit den für unsere Breiten unvorstellbar harten, kalten und langen Wintern in der russischen Steppe.
1 Siehe: Th.B. – Siegfried Unseld: Der Briefwechsel, hg. von Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer. Frankfurt/Main 2009, 634.
2 In: Th.B.: Gedichte. Werke Bd. 21, hg. von Raimund Fellinger. Berlin 2015, 393.
3 Vgl. Paola Bozzi: Ästhetik des Leidens. Zur Lyrik Th.B.s. Frankfurt/Main 1997, 14-16.
4 Th.B.: Gedichte, a.a.O., 98/99.
5 Die Hauptfigur des Romans, der Maler Strauch, formuliert ein unvermittelt ‚herunter gebeteten’ Vaterunser, in dem alle sieben Bitten und alle weiteren Aussagen des Gebetes konsequent in ihr Gegenteil verkehrt sind: „Vater unser, der du bist in der Hölle, geheiligt werde kein Name. Zukomme uns kein Reich. Kein Wille geschehe. Wie in der Hölle, also auch auf Erden. Unser tägliches Brot verwehre uns. Und vergib uns keine Schuld. Wie auch wir vergeben keinen Schuldigern. Führe uns in Versuchung und erlöse uns von keinem Übel. Amen.“ Das verkehrte Gebet endet im Romantext mit der vom Erzähler-Ich referierten Bemerkung des Malers: „’So geht es ja auch’, sagte er.“
6 Cornelius Hell: Zensierte Kampfgebiete. Neues Licht auf Th.B.s Verhältnis zur Religion. In: Orientierung, 68. Jg., 2004, 47.
7 Th.B.: Die Kälte, 36 (bei Bozzi!!)
8 Th.B.: Gedichte, a.a.O., 187.
9 Th.B.: Gedichte, a.a.O., 432.
10 Sieben der neun Psalmen, fünf Gedichte aus „In hora mortis“ und eines aus „Unter dem Eisen des Mondes“ hat der Theologe P.K.Kurz aufgenommen in: Ders. (Hg.): Psalmen vom Expressionismus bis zur Gegenwart. Freiburg 1978.
11 Susanne Gillmayr-Bucher: Die Psalmen im Spiegel der Lyrik Th.B.s. Stuttgart 2002.
12 Cornelius Hell / Wolfgang Wiesmüller: Die Psalmen-Rezeption biblischer Lyrik in Gedichten. In: Heinrich Schmidinger u.a. (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 1: Formen und Motive. Mainz 1999, 158-204.
13 Chiara Conterno: Die andere Tradition: Psalm-Gedichte im 20. Jahrhundert. O.O. 2014.
14 Th.B.: Gedichte, a.a.O., 222.
15 Vgl. dazu die editorische Notiz in: Bernhard, Gesammelte Gedichte, a.a.O., 338.
16 Eine Kopie dieses Typoskripts ist die Textgrundlage für diesen Essay. Die Gedichtsammlung findet sich nicht in der von Jens Dittmar herausgegebenen Werkgeschichte (Dittmar, Jens (Hg.): Thomas Bernhard Werkgeschichte. Frankfurt/Main 1990). Einen möglichen Hinweis auf den Entstehungszeitraum liefert das im letzten Abschnitt der Sammlung („In kahlen Bergen“) zu findende Gedicht P. 135c mit dem Titel: „10. Februar 1960“; einige Gedichte im ersten Teil enthalten Motive, die mit einem von B.s Aufenthalten in der Lungenheilanstalt Grafenhof (erster Aufenthalt: 27.7.1949 – 26.2.1950; zweiter Aufenthalt: 13.7.1950 – 11.1.1951) zusammenhängen können, ohne dass sie bereits damals entstanden sein müssen.
17 Die Sammlung umfasst insgesamt 135 Texte, am Schluss des Typoskripts sind noch vier Texte mit dem handschriftlichen Vermerk „ausgeschiedene Gedichte“ angefügt. Lücken in der Paginierung lassen allerdings darauf schließen, dass einige Texte entweder verloren gegangen oder von B. vernichtet worden sind. Die 26 darin enthaltenen explizit religiösen Texte machen immerhin ca. ein Fünftel der Gesamtzahl aus.
18 Bernhard, Thomas: Karfreitag. In: Ders.: Frost. Gedichte (unveröffentl. Manuskript), P. 106a.
19 Zwei davon ebenfalls unter Verwendung religiöser Motive; auf diese beiden Texte werde ich im dritten Schritt noch zurückkommen.