„Wir nehmen die Menschenrechte in unsere Hände.“

interdisziplinaerSoziale und politische Teilhabe in der regionalen Menschenrechtsarbeit.

Wenn wir feststellen, dass die Politiker, die all dieses Gerede über Menschenrechte von sich geben, nicht wirklich meinen, was sie sagen, so ist das Recht für uns leer. Dabei bleiben wir jedoch nicht stehen, sondern nehmen die Menschenrechte in unsere Hände und arbeiten für sie. So können wir sie zu einem Teil von uns selbst machen.“
(der Sprecher einer Gemeinschaft schwarzer Südafrikaner*innen, die während des Apartheidregimes von ihrem Land vertrieben wurden und nach dem Ende der Apartheid für eine Rückgabe kämpften)

  1. Zum Verhältnis zwischen Menschenrechten und Demokratie

Demokratie und Menschenrechte sind seit ihrer Entstehung in den Prozessen von Aufklärung und demokratischen Revolutionen miteinander verbunden. Sie verweisen wechselseitig aufeinander. Gleichzeitig stehen sie in einem Spannungsverhältnis, da die Menschenrechte wesentlich Individualrechte sind und die Einzelnen als Rechtssubjekte auch gegenüber demokratisch-staatlicher Herrschaft schützen. Jedoch bedeutet Menschenrechtsvollzug als Form aktiver Herrschaftsbeschränkung ebenfalls einen demokratischen Legitimationsprozess für staatliche Strukturen. In diesem Spannungsfeld spielen soziale und politische Partizipationsformen als Bindeglied zwischen den Einzelnen als Subjekten der Menschenrechte und dem demokratisch verfassten Staat eine wesentliche Rolle. Partizipation ist ein Prinzip der Menschenrechte, und bereits in den klassischen Fundamentaltexten – wie der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ – wird deutlich, dass die einzelnen Menschenrechte in ihrer Grunddimension auf Partizipation angelegt sind.1 Gerade das im ersten Satz der Präambel und in Artikel 1 der „Allgemeinen Erklärung“ formulierte allgemeine Gleichheitsprinzip in der Geltung der Menschenrechte („Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“) bildet die Grundlage für ihre partizipatorische Verfasstheit. In verschiedenen Menschenrechtstexten wird diese Verfasstheit der Menschenrechte als Teilhaberechte nochmals explizit hervorgehoben – so etwa im „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ der Vereinten Nationen, der sog. „Kinderrechtskonvention“2.

In den unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen zwischen Menschenrechten und Demokratie spiegelt sich das ganze Spektrum zwischen den Polen jener liberalen Auffassungen, die den ethischen, vorstaatlichen Primat der Menschenrechte vertreten, und den republikanischen Positionen, die den Vorrang der Volkssouveränität betonen. Darauf soll hier nicht eingegangen werden. Ich möchte lediglich als Reflexionsgrundlage für meine der konkreten Praxis einer regionalen Menschenrechtsarbeit geschuldeten Überlegungen auf zwei mir wesentlich erscheinende Punkte in der Verhältnisbestimmung zwischen Menschenrechten und Demokratie verweisen: zum einen darauf, dass Teilhabeprozesse im Kontext der Menschenrechtsarbeit nie ausschließlich als politische Teilhabe verstanden werden können, sondern dass sie immer mit Formen der sozialen Teilhabe verbunden sind. Dies hängt mit der prinzipiellen Einheit der verschiedenen Dimensionen von Menschenrechten zusammen, die gerade in der konkreten Menschenrechtsarbeit erfahrbar ist: Politische Freiheitsrechte sind als universale und fundamental gleiche v.a. für besonders verletzliche Gruppen von Menschen nicht verwirklichbar, wenn sie nicht mit der Realisierung von sozialen Menschenrechten verbunden sind.3 Das Menschenrecht auf freie Kommunikation über die jeweils eigene Armutssituation im öffentlichen Raum beispielsweise, das der Verfassungsgerichtshof Österreichs in einem grundlegenden Urteil über die Beschwerde gegen das damals im Salzburger Landessicherheitsgesetz geltende absolute Bettelverbot bekräftigt hatte4, bleibt ein wirkungsloses Formalrecht, solange es nicht dadurch ergänzt wird, dass eine Kommune wie Salzburg auch ihre Verantwortung für soziale Menschenrechte (Recht auf Wohnen, Recht auf körperliche Unversehrtheit, Gesundheit etc.) der durch ihre absolute Armut zum Betteln gezwungenen Menschen wahrnimmt, indem sie soziale Maßnahmen wie Notunterkünfte, mobile Gesundheitsversorgung oder streetwork realisiert bzw. finanziert. Zum zweiten geht es um ein Verständnis der politischen Teilhabe, das diese als breiten kommunikativen Prozess versteht, an dem sich potentiell alle von politischen Entscheidungen betroffenen Menschen in Form von Diskussion, Beratung und Mitentscheidung in öffentlichen oder teilöffentlichen Bereichen beteiligen können. Gerade in deliberativen demokratischen Prozessformen5 können die Menschenrechte als normative Grundlage von Demokratie6 auch gegen deren Missachtung durch formaldemokratische Entscheidungsfindungsprozeduren geltend gemacht werden – wie etwa im anhaltenden Widerstand zivilgesellschaftlicher Akteur*innen gegen den andauernden Prozess der Verschärfung asylrechtlicher Bestimmungen, die den Zugang zum Recht auf Asyl in Österreich beschränken, hierarchisieren oder von ökonomischen Rahmenbedingungen abhängig machen wollen.

  1. Partizipation in der regionalen Menschenrechtsarbeit7

Den Erfahrungshintergrund für die folgenden Überlegungen zu Teilhabeprozessen in der regionalen Menschenrechtsarbeit bildet die Arbeit der Salzburger Plattform für Menschenrechte, die im Gebiet des österreichischen Bundeslandes Salzburg auf lokaler Ebene Menschenrechtsarbeit im Bereich von NGOs vernetzt, koordiniert und betreibt.8 Als NGO-Netzwerk ist der Plattform soziale wie politische Teilhabe als Formalprinzip der Menschenrechte ein besonderes Anliegen. Denn in unserer Arbeit wiederholt sich viele Male die Erfahrung, dass fundamentale Prinzipien der Menschenrechte wie Universalität und Unteilbarkeit ohne einen hohen Standard von partizipativen Strukturen in der politischen Kultur praktisch nicht zu verwirklichen sind. Der möglichst ungehinderte Zugang zu Grund- und Menschenrechten gerade von besonders verletzlichen Bevölkerungsgruppen verwirklicht sich nur dort, wo deren Teilhabe ein explizites Ziel von sozialen wie politischen Prozessen ist. Deshalb hat die Plattform u.a. politische Beteiligungsprozesse „top-down“ angeregt und begleitet – so beispielsweise den Prozess zur Implementierung der Selbstverpflichtungen der „Europäischen Charta für den Schutz der Menschenrechte in der Stadt“9, der nach der offiziellen Unterzeichnung der Charta durch die Stadt Salzburg 2008 in die Wege geleitet wurde – verbunden mit der Einrichtung eines „Runden Tisches Menschenrechte in der Stadt Salzburg“10 -, oder den Prozess zur Einrichtung eines Integrationsbeirates des Landes Salzburg (jetzt „Integrationsplattform des Landes Salzburg“)11. Die Erfahrungen bei der Mitarbeit in solchen „Top-down-Prozessen“ machen immer wieder Partizipationsdefizite im politischen System Österreichs sichtbar. Denn die formalen Prozeduren politischer Institutionen wie etwa eines Stadtsenates oder einer Landesregierung sind nur langsam und in Teilbereichen dahingehend veränderbar, dass sie sich echten Beteiligungsprozessen öffnen, die eine reale Mitsprache oder gar Mitbestimmung von verletzlichen Gruppen ermöglichen. In solchen „Top-down-Prozessen“ bleibt die Gefahr groß, dass sie zu reiner Scheinpartizipation oder zu „tokenism“ verkommen12. Letztlich bleibt die Ambivalenz bestehen zwischen der grundsätzlich positiven Erfahrung, dass solche Institutionen von der offiziellen Politik geschaffen werden, und der Tatsache, dass diese Gremien, die grundsätzlich dem Modell der Beiräte entsprechen, nur in einer sehr abgeschwächten Form Teilhabe schaffen und verletzliche Gruppen in ihnen kaum Interessenvertretung oder „empowerment“ finden können. In einem Stufenmodell menschenrechtlich fundierter Partizipation müssen solche Teilhabeformen in der Regel weit im unteren Bereich angesetzt werden. Das folgende Stufenmodell umfasst auf den beiden untersten Stufen Formen von Scheinpartizipation sowie auf Stufe 3 Alibiformen von Teilhabe, wie sie von politischen Akteur*inn*en immer wieder angewandt werden.

STUFENMODELL VON PARTIZIPATION:13

Menschenrechte und Partizipation_Text_Buch-5

Das Modell zeigt mit seinen acht Stufen, wie sich in der Praxis verschiedene Formen von Partizipation überschneiden und Teilhabeprozesse oft aus gleitenden Übergängen zwischen verschiedenen Stufen bestehen. Gerade Vertretungsfunktionen erweisen sich für Multiplikator*inn*en aus verletzlichen Bevölkerungsgruppen häufig als ambivalent. Erst durch aktive, hartnäckige und wiederholte Einmischung der engagierten Mitglieder von Beiräten in politische Entscheidungsprozesse gelangen solche Gremien auf eine höhere Ebene von Partizipation.

Erst durch aktive, hartnäckige und wiederholte Einmischung der engagierten Mitglieder von Beiräten in politische Entscheidungsprozesse gelangen solche Gremien auf eine höhere Ebene von Partizipation.

Zum größten Teil realisiert die Plattform für Menschenrechte wesentliche Elemente ihrer Menschenrechtsarbeit in „bottom-up-Prozessen“, d.h. in Form einer menschenrechtlich fundierten, basisorientierten Projektarbeit, die niederschwellige Zugänge zu wesentlichen Bereichen gesellschaftlicher Teilhabe ermöglichen.14 Daraus hat sich ein bestimmtes Modell entwickelt, das ich im folgenden Abschnitt in seinen Umrissen kurz darstellen möchte.

  1. Ein Modell regionaler Menschenrechtsarbeit

Menschenrechtsverletzungen realisieren sich auf regionaler Ebene zu einem großen Teil über Ausgrenzungsprozesse von sozialen Akteur*inn*en. Ausgrenzung ist gerade in diesen Zusammenhängen ein dynamischer Prozess, der verschiedene Stufen durchläuft: Er betrifft sowohl Gruppen, die im Zentrum der gesellschaftlichen Teilhabe stehen, als auch Gruppierungen, die an der gesellschaftlichen Peripherie leben oder bereits über den Rand der Gesellschaft hinausgedrängt sind. In der Arbeit der Plattform für Menschenrechte entwickelten sich im Laufe der Jahre klare Schwerpunktsetzungen, v.a. was die Zielgruppen unserer Arbeit betrifft. Im Fokus stehen Gruppen von Menschen, die von solchen Ausgrenzungsprozessen in besonderer Weise betroffen sind. Wir identifizieren sie v.a. über ein Konzept von Verletzlichkeit15:

Im Prinzip ist das Verletzlichkeitskonzept eine Erweiterung herkömmlicher Definitionen von Armut. Der Begriff der Verletzlichkeit geht jedoch über den der Armut hinaus: Verletzlichkeit meint nicht nur Mangel und ungedeckte Bedürfnisse, sondern einen gesellschaftlichen Zustand, der durch Anfälligkeit, Unsicherheit und Schutzlosigkeit geprägt ist. Verletzliche Menschen und Bevölkerungsgruppen sind vielfältigen Gefährdungs- sowie Stressfaktoren ausgesetzt und haben Schwierigkeiten, diese zu bewältigen. Diese Schwierigkeiten resultieren nicht nur aus Mangel an materiellen Ressourcen. Sie entstehen auch, weil den Betroffenen die gleichberechtigte Teilhabe und Teilnahme an Wohlstand und Glück verwehrt wird, weil ihnen Unterstützung vorenthalten wird oder weil sie nicht ausreichend in soziale Netzwerke eingebunden sind. Verletzlichkeit besitzt folglich nicht nur eine ökonomische bzw. materielle Dimension (Armut), sondern auch eine politische und soziale. Sie hat politische Ursachen und ist mit politischen Mitteln zu verändern. Verletzlichkeit muss als ein dynamischer Prozess verstanden werden. Betroffene können je nach Situation unterschiedlich verletzlich sein oder werden. Einzelne Phasen dieses Verletzlichkeitsprozesses reichen vom Stadium der Grundanfälligkeit (Phase der Bewältigung oder des Sich-Arrangierens) über mehrere Zwischenschritte bis hin zur existenziellen Katastrophe, die durch einen Kollaps der Lebensabsicherung und durch totale Abhängigkeit der Betroffenen von externen Hilfsmaßnahmen gekennzeichnet ist.

Der Begriff der Verletzlichkeit hat auch in den Menschenrechtsdiskurs Eingang gefunden16 und findet sich als Formalbestimmung in den Selbstverpflichtungen der „Europäischen Charta für den Schutz der Menschenrechte in der Stadt“; Artikel IV, Abs. 1 und 3: „Die schwächsten und verletzlichsten Bevölkerungsgruppen und Einzelpersonen haben das Recht auf besonderen Schutz.“ (…) „Die unterzeichneten Städte betreiben eine aktive Politik zur Unterstützung der schwächsten und verletzlichsten Bevölkerungsgruppen, um allen das Recht auf Teilhabe am städtischen Leben zu ermöglichen.“ Aufgrund jener Formalbestimmung ist dieses Modell von Menschenrechtsarbeit auch direkt anschlussfähig an eine kommunale Menschenrechtsarbeit, die sich an den Selbstverpflichtungen der „Europäischen Charta“ orientiert. Das Merkmal der Verletzlichkeit lässt sich unterschiedlichen Gruppen von Betroffenen zuordnen. Es betrifft nicht nur Minderheitsgruppen, die direkt durch Verletzlichkeit gekennzeichnet sind (wie z.B. Armutsmigrant*inn*en), sondern auch Angehörige der Mehrheitsbevölkerung, die in besonderen Situationen verletzlich werden, z.B. Langzeitarbeitslose oder Menschen mit Beeinträchtigung. Darüber hinaus bilden sich in und für besonders verletzliche Personengruppen Selbstorganisationen heraus, die Multiplikator*inn*en und Meinungsbildner*innen ausprägen. Es lassen sich also in einer vereinfachenden Typologie drei Stufen von Verletzlichkeit unterscheiden:

direkt besonders verletzlichen (Minderheits-)Gruppen angehörende Personen

MultiplikatorInnen, MeinungsbildnerInnen in Selbstorganisationen von verletzlichen Gruppen

Verletzlich gewordene Angehörige der Mehrheitsbevölkerung

Innerhalb dieser drei Stufen von Verletzlichkeit können aus den Erfahrungen der Menschenrechtsarbeit mit verletzlichen Gruppen weitere Differenzierungen vorgenommen werden, die möglichst detailliert umrissene Zielgruppen unserer Arbeit definieren. Die im Folgenden abgebildete Zielgruppenmatrix wurde für die Monitoringarbeit der Plattform für Menschenrechte und für die Projektplanung des „Runden Tisches Menschenrechte“ der Stadt Salzburg als Analyseinstrument entwickelt, das je nach aktuellen Erfahrungen korrigierbar, veränderbar und erweiterbar ist:

ZIELGRUPPENMATRIX:

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Die Matrix verschränkt soziale Situationen, in denen verletzliche Menschen leben müssen, mit Merkmalen, die jene Situationen wiederum in spezifischer Weise bestimmen. Wenn zum Beispiel Armutsmigrantinnen neben einer gesellschaftlichen Ausgrenzung als „Bettlerinnen“ auch noch innerhalb ihrer Gruppe als Frauen geschlechtlich bestimmter Gewalt ausgesetzt sind, verstärkt sich ihre existentielle Verletzlichkeit in dramatischem Ausmaß. Darüber hinaus können sich auch soziale Situationen überlagern und wechselseitig in ihrer ausgrenzenden Wirkung verstärken: Ein weiblicher anerkannter Flüchtling wird etwa als Muslima einerseits und als Analphabetin andererseits bei der Integration in einen lokalen Arbeitsmarkt vor beinahe unüberwindlichen Hindernissen stehen.

Aus dieser Form der Menschenrechtsarbeit mit möglichst konkret wahrgenommenen verletzlichen Gruppen entstand das im Folgenden darzustellende Modell. Es folgt einem breit angelegten Verständnis von Menschenrechtsarbeit, wie sie in den Arbeitsfeldern der 34 Mitgliedsorganisationen in der Plattform für Menschenrechte Tag für Tag realisiert wird. Da diese Mitgliedsorganisationen ein breites Spektrum der Zivilgesellschaft repräsentieren und ganz unterschiedlich strukturiert sind, haben sich auch sehr verschiedene Ebenen von basisorientierter, partizipativer Menschenrechtsarbeit herausgebildet. Einige Beispiele sollen diese Unterschiedlichkeit verdeutlichen: Neben den großen Sozialeinrichtungen der christlichen Kirchen, Caritas und Diakonie, sind eine Reihe kleinerer Gemeinden verschiedener Religionsgemeinschaften in der Plattform vertreten, so z.B. die Evangelisch-Methodistische Kirche, die Buddhistische Gemeinde oder die Bosnisch-Islamische Gemeinde. Vereine mit Selbstvertretungsanspruch verletzlicher Gruppen wie die „Homosexuelleninitiative“, die „Muslimische Jugend Österreich“ oder „PHURDO – Zentrum Roma – Sinti“ finden sich neben sozialen und Beratungseinrichtungen wie „EINSTIEG“ , „Aktion Leben“ oder „VIELE Frauen“. Auch Organisationen mit unterschiedlichster politischer bzw. weltanschaulicher Ausrichtung arbeiten im Netzwerk zusammen: die Grünen ebenso wie der Ökumenische Arbeitskreis, der Akasya Frauenverein ebenso wie die Katholische Frauenbewegung. Die Herausforderung für die koordinierende Rolle eines Menschenrechts-Netzwerkes mit so unterschiedlichen Mitglieds- und Partnerorganisationen besteht darin, ein Verständnis von regionaler Menschenrechtsarbeit zu entwickeln, das die reale Unterschiedlichkeit im Netzwerk in einem gemeinsamen Modell bündeln und zusammenführen kann. Das Modell, das in der Plattform für Menschenrechte entwickelt wurde, benennt die verschiedenen Ebenen von Menschenrechtsarbeit, gestuft nach dem Maß ihrer individuellen bzw. strukturellen Interventionsformen. Weiters benennt es die verschiedenen Akteur*innen auf den unterschiedlichen Ebenen und die Rollen, die sie in ihrer Arbeit einnehmen:

Modell regionaler Menschenrechtsarbeit: Ebenen, Akteur*innen, Rollen:

Menschenrechte und Partizipation_Text_Buch-11

Das Modell unterscheidet fünf verschiedene Ebenen von Menschenrechtsarbeit und ordnet sie nach ihrem Abstraktionsgrad. Die erste Ebene ist die von individuellen Hilfsaktionen aus eigener Betroffenheit; ein Beispiel dafür: In Salzburg ansässige Roma unterstützen Roma aus Syrien oder Mazedonien, die als Flüchtlinge nach Salzburg kamen. Auf einer zweiten Ebene kommt die solidarische Betroffenheit Anderer (z.B. Personen aus der Mehrheitsgesellschaft) hinzu; ein Beispiel sind Gruppen von Unterstützer*inne*n für Selbsthilfeprojekte von Betroffenen. Auf einer nächsten Stufe mit höherem Abstraktionsgrad sind „Selbst(hilfe)organisationen“ wie der Verein PHURDO, der Verein „knackpunkt – selbstbestimmt leben“ von Menschen mit Beeinträchtigung oder die „Homosexuelleninitiative“ angesiedelt. Die vierte Stufe umfasst zivilgesellschaftliche Organisationen, die themen- bzw. zielgruppenspezifische Menschenrechtsarbeit machen wie Caritas und Diakonie oder das Salzburger Friedensbüro. Die letzte Stufe mit dem höchsten Abstraktionsgrad umfasst eine strukturbezogene Menschenrechtsarbeit, wie sie die Plattform als Netzwerk mit ihrem Monitoring für Menschenrechte durchführt. Darüber hinaus ordnet das Modell diesen Ebenen die jeweilige Aktionsform, die systemische und/oder individuelle Rolle und den jeweiligen Grad an Ehrenamtlichkeit bzw. Professionalisierung zu. Auf der Grundlage dieser Zuordnungen wird es möglich, Menschenrechtsarbeit sowohl in ihrer Vielfältigkeit der Akteur*innen als auch in ihrer Diversität der Handlungsebenen abzubilden. Das Modell ist aus der praktischen Erfahrung der regionalen Menschenrechtsarbeit heraus entwickelt und deshalb deskriptiv und nicht normativ zu verstehen. Es betont die Gleichwertigkeit und den je eigenen Wert all dieser Formen und stellt die jeweilige konkrete Form von Menschenrechtsarbeit mit ihren Spezifika (Institutionalisierungsgrad, Rollenverständnis, Rollenzuschreibung, ehren- und hauptamtliche Ressourcen) dar.

Im allgemeinen Menschenrechtsdiskurs spielte regionale Menschenrechtsarbeit bisher eine eher untergeordnete Rolle. Dem versuchte das Netzwerk der „Europäischen Konferenz Städte für die Menschenrechte“ entgegenzuwirken, indem es die Bedeutung der Städte als unmittelbare Lebensräume einer wachsenden Mehrheit von Menschen betonte und in der Präambel zur „Europäischen Charta für den Schutz der Menschenrechte in der Stadt“ besonders hervorhob:

„Die Stadt ist Raum der Begegnung und vor allem Raum für persönliche Entfaltung. Hier werden gleichzeitig aber auch Widersprüche und Gegensätze und somit Gefahren sichtbar: Im städtischen Raum mit seiner Anonymität treten alle Formen von Diskriminierung auf, die in Arbeitslosigkeit, Armut und fehlender Wertschätzung für kulturelle Unterschiede wurzeln, während gleichzeitig zivile und soziale Praktiken der Solidarität entstehen.“17

Menschenrechtsarbeit, die auf dieser lokalen und kommunalen Ebene angesiedelt ist, realisiert sich direkt in den Lebensräumen der Menschen. Sie ist in der Lage, gerade auch Zugänge zu den Lebenswelten besonders verletzlicher Menschen(gruppen) zu schaffen und auf allen Ebenen Teilhabe zu verwirklichen. Auch dieser Aspekt wird bereits in der Präambel der „Europäischen Charta“ hervorgehoben:

„Hier eröffnen sich neue Möglichkeiten für eine bürgernahe Demokratie. Hier bietet sich allen Einwohnerinnen und Einwohnern die Gelegenheit, am städtischen Leben teilzuhaben – und damit die Zugehörigkeit zur Bürgerschaft der Stadt. Wenn alle hier definierten Rechte allen zustehen, dann muss jede Bürgerin und jeder Bürger in Freiheit und Solidarität diese Rechte auch allen anderen zugestehen.“18

Stetig aber langsam wächst das Bewusstsein für diese Chance regionaler Menschenrechtsarbeit in Österreich: Vor kurzem hat sich auch die Bundeshauptstadt Wien – nach Graz und Salzburg – zur Menschenrechtsstadt erklärt. Offen ist nach wie vor die Frage, ob die Menschenrechtsstädte ihr Engagement für Grundrechte an den Rechtszugängen der Verletzlichsten in ihren Bevölkerungen messen lassen und ob sie partizipative Formen der Menschenrechtsarbeit entwickeln, die über den lähmenden Statusquo der bisher üblichen Politikrituale hinausreichen. Im Kontext der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen – etwa der sprunghaften Verlagerung eines Teils der weltweiten Fluchtbewegungen in die Länder der Europäischen Union, der Zunahme der innereuropäischen Armutsmigration aus den Ländern Südosteuropas oder der wachsenden Islamophobie in den Reichtumsgesellschaften auf dem Hintergrund der terroristischen Akte des sog. „Islamischen Staates“ – wird die Bedeutung der städtischen Lebensräume und der Rechtszugänge in ihnen weiter zunehmen. Sie sind in besonderem Maß die Orte, an denen Menschenrechte als konkrete Teilhaberechte – v.a. für besonders verletzliche Menschen(gruppen) – erfahrbar werden können. V.a. in den Städten wird sich entscheiden, ob wir in Europa die Herausforderungen des ureigensten normativen Fundaments von Demokratie – der Menschenrechte – anzunehmen in der Lage sind, oder ob wir an ihnen scheitern werden.

Autor: Josef P. Mautner

Veröffentlicht in: Jessica Fortin-Rittberger / Franz Gmainer-Pranzl (Hg.): Demokratie – ein interdisziplinäres Forschungsprojekt. (Salzburger Interdisziplinäre Diskurse) Frankfurt/Main – Bern – Bruxelles – New York – Oxford – Warszawa – Wien 2017.

1 Inhaltlich lassen sich die Menschenrechte als Teilhaberechte noch in die subjektiven Freiheitsrechte und die Gruppe der sozialen Teilhaberechte unterscheiden; siehe hierzu: Lohmann, Georg, Die unterschiedlichen Menschenrechte, in: Fritzsche, Klaus Peter/Lohmann, Georg (Hg.), Menschenrechte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Würzburg 2000, 9-23.

2 Siehe: http://www.compasito-zmrb.ch/fileadmin/media/compasito-zmrb.ch/KRK_s_316_328.pdf (zuletzt aufgerufen: Jan. 2016). Im „Compasito“, der für Kinder und Jugendliche adaptierten Fassung des „Europäischen Menschenrechtskompass“, wird das Teilhabeprinzip der Kinderrechtskonvention ausführlich erläutert: http://www.compasito-zmrb.ch/themen/partizipation/ (zuletzt aufgerufen: Jan. 2016). Signifikant erscheint mir, dass Österreich bis vor kurzem die Kinderrechtskonvention nur mit Vorbehalten ratifiziert hatte, die z.T. exakt jene Artikel betrafen, in denen die Verpflichtung zu einer direkten Partizipation von Kindern formuliert war. Mit Beschluss des Nationalrates vom 7. Juli 2015 wurden diese österreichischen Vorbehalte zu Art. 13 (Recht auf freie Meinungsäußerung), 15 (Versammlungsfreiheit) und 17 (Recht auf Zugang zu Information) sowie die Erklärungen zu Art. 38 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes zurückgenommen: http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/BNR/BNR_00207/index.shtml (zuletzt aufgerufen: Jan. 2016). Bereits vier Jahre zuvor war diese Angleichung an internationale Grundrechtestandards durch die mit dem Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern vom Februar 2011 international vielbeachtete Übernahme der zentralen Grundsätze der Kinderrechtekonvention eingeleitet. Dabei wurde insbesondere das Kindeswohlvorrangigkeitsprinzip (Art. 1), das Recht des Kindes auf angemessene Beteiligung und Berücksichtigung seiner Meinung in seinen eigenen Angelegenheiten (Art. 4) und das Recht auf eine gewaltfreie Kindheit (Art. 5) in der österreichischen Verfassung verankert: https://www.unicef.at/kinderrechte/kinderrechte-in-oesterreich/ (zuletzt aufgerufen: Jan. 2016).

3 Zu sozialen Menschenrechten siehe: Krennerich, Michael/Stamminger, Priska, Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte: Die Interpretation ist nicht beliebig! in: http://www.humanrights.ch/upload/pdf/090730_Krennerich_WSK_Rechte.pdf.pdf (zuletzt aufgerufen: Jan. 2016).

5 Siehe: Habermas, Jürgen, Drei normative Modelle der Demokratie: Zum Begriff deliberativer Demokratie, in: Münkler, Herfried (Hg.), Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie, München und Zürich 1992, 11-24. (erneut abgedruckt in: Habermas, Jürgen, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a.M. 1996, 277-292.)

6 Vgl.: Brunkhorst, Hauke/Niesen, Peter (Hg.), Das Recht der Republik, Frankfurt/M. Suhrkamp 1999, darin insbesondere: Habermas, Jürgen, Zur Legitimation durch Menschenrechte, 386 ff.; Alexy, Robert, Die Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Gosepath, Stefan/ Lohmann, Georg, Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, 244-264.

7 „Regionale Menschenrechtsarbeit“ steht hier nicht im Zusammenhang regionaler Menschenrechtsschutzsysteme wie der Amerikanischen oder der Europäischen Menschenrechtskonvention oder der Arabischen Charta der Menschenrechte. Gemeint sind in diesem Kontext wesentlich kleinräumigere Menschenrechtsschutzbewegungen auf lokaler Ebene von Bundesländern oder Kommunen; siehe etwa die Europäische Charta zum Schutz der Menschenrechte in der Stadt.

8 www.menschenrechte-salzburg.at. (zuletzt aufgerufen: Jan. 2016).

12 „Tokenism“ ist ein sozialpsychologisches Phänomen in politischen Strukturen, die „Teilhabekulissen“ ohne wirkliche Teilhabe schaffen, indem sie minimale Zugeständnisse in der formalen Partizipation von benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen zulassen, um dem Vorwurf von Ausgrenzung und Diskriminierung begegnen zu können. Vgl.: Hogg, Michael A./Vaughan, Graham M., Social Psychology, Harlow, 2014 (7th ed.), 368f.

13 Das Modell ist eine adaptierte Version des Stufenmodells von Roger Hart: Hart, Roger, Children’s Partizipation from Tokenism to Citizenship: UNICEF Innocenti Research Centre, Florenz 1992.

14 So z.B. in einem EU-Projekt („Melete“) in Kooperation mit den Organisationen BFI und „Frau&Arbeit“, in dem niederschwellige Zugänge zu formellen und informellen Bildungsprozessen für Menschen mit Migrationshintergrund geschaffen wurden. Siehe: http://www.menschenrechte-salzburg.at/nc/aktuelles/einzelansicht/article/eu-projekt-melete-migration-bildung-zukunft/9.html und http://www.esf.at/esf/projekte/salzburg/ (beide zuletzt aufgerufen: Jan. 2016).

15 Z.T. überschneiden sich die Begriffe „Verletzlichkeit“ und „Verwundbarkeit“ (Vulnerabilität) in ihren Bedeutungen, v.a. dort wo Vulnerabilität von einem ökologischen zu einem sozialen oder politischen Modell erweitert wird. Ich bevorzuge hier den Begriff „Verletzlichkeit“, weil er eindeutiger politischen und sozialen Kategorien zuzuordnen ist.

16 Zu „Verletzlichkeit“ als Begriff im Zusammenhang der Diskussion um die Unantastbarkeit der Menschenwürde vgl.: Gottschalk, Christiane, Die Verletzlichkeit der Menschenwürde am Beispiel sexualisierter Gewalt gegen Frauen, Berlin 2014.

17 Präambel der „Europäischen Charta“; siehe: http://www.menschenrechte-salzburg.at/projekte/europaeische-charta-fuer-den-schutz-der-menschenrechte-in-der-stadt.html (zuletzt aufgerufen: Jan. 2016).

18 Ebda.

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