„Es gäbe viele unter uns, die großes Potential haben. Aber die Mehrheit sagt: Ihr seid Zigeuner!“

Stolipinovo_PartnerDie Plattform für Menschenrechte Salzburg (www.menschenrechte-salzburg.at) arbeitet seit September 2014 in einer Partnerschaft mit der ROMA-Foundation (Foundation for Regional Development ROMA Stolipinovo) in Plovdiv/Bulgarien zusammen. Die ROMA-Foundation ist eine Selbstorganisation von Roma, die in Stolipinovo sowie in den Vierteln und Dörfern im Bezirk Plovdiv leben. Die Foundation entwickelt Projekte, die die Lebensbedingungen der Roma sowie ihre soziale und gesellschaftliche Situation verbessern, und führt sie durch. Die Partnerschaft zwischen Plattform für Menschenrechte und ROMA-Foundation hat Austausch und gegenseitige Unterstützung in der regionalen Menschenrechtsarbeit zum Ziel.

Stolipinovo ist ein Wohnviertel der Stadt Plovdiv im Süden Bulgariens. Plovdiv ist mit knapp 377.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Bulgariens nach Sofia. Sie ist das Verwaltungszentrum der Gemeinde sowie der gleichnamigen Provinz. Wie viele andere Städte Bulgariens hat Plovdiv mehrere Viertel, die ausschließlich von Angehörigen der ethnischen Minderheit der Roma besiedelt sind. Stolipinovo ist eines der größten Roma-Ghettos in Bulgarien mit geschätzten 55.000 EinwohnerInnen. Eine genaue Zahl lässt sich nicht ermitteln, weil die meisten von ihnen durch das offizielle Meldesystem nicht erfasst sind. 1Nur eine Minderheit der EinwohnerInnen von Stolipinovo sieht sich selber als christlich – und der größte Teil davon sind Protestanten, die einer der freikirchlichen Gemeinden im Stadtteil angehören. Die Mehrheit bilden türkischsprachige Muslime, wovon wiederum die meisten sich als Türken bezeichnen. >read more<
Die Situation der BewohnerInnen von Stolipinovo ist katastrophal: Sie leiden unter absoluter Armut, Mangelernährung, einer schlechte Gesundheitssituation (Verbreitung von Aids, TBC), ca. 95% Arbeitslosigkeit, schlechtem Zugang zu schulischer und beruflicher Bildung, Ghettoisierung und massiver Diskriminierung aufgrund des herrschenden antiziganistischen Rassismus in der bulgarischen Gesellschaft.

Die Kooperation im Rahmen der Partnerschaft umfasst ein Radioprojekt: Wir haben bei unserem Besuch Equipment für Radioaufnahmen mitgebracht, und Jugendliche lernen im Projekt selber Radiosendungen zu gestalten und aufzunehmen. Sie werden dabei über ihre Lebenssituation, ihren Jugendclub, ihre Diskriminierungserfahrungen ebenso wie über positive Erlebnisse berichten. Die ROMA-Foundation hat einen fixen Sendeplatz im staatlichen Radio Plovdiv, über den diese Sendungen ausgestrahlt werden können. Darüber hinaus ist für das kommende Jahr ein Jugendaustausch im Rahmen der Partnerschaft geplant: Jugendliche aus Stolipinovo sollen nach Salzburg reisen können, um Jugendorganisationen und –zentren in Salzburg kennenzulernen. In weiterer Folge sollen auch Salzburger Jugendliche nach Plovdiv reisen und die Jugendlichen in Stolipinovo besuchen können.

Partner bei diesem Austauschprojekt ist der Jugendclub der ROMA-Foundation. Josef Mautner sprach mit dem Direktor des Jugendclubs Assen Karagyozov. Assen ist 37 Jahre alt, verheiratet. Er hat zwei Kinder. Assen Karagyozov absolviert ein Studium in Management und Psychologie:

Josef Mautner: Wie begann die Arbeit mit dem Jugendclub in der ROMA Stiftung? Was war die Motivation für Euch, einen Jugendclub aufzubauen?

Assen Karagyozov: Bei der Stiftung arbeiteten schon immer viele Jugendliche als Freiwillige mit. Aber es gab keinen eigenen Jugendverband. Die bulgarischen Jugendlichen hatten ihre Verbände, wir nicht. Dadurch kam die Idee, diese große Gruppe von ca. 70 Jugendlichen, die bei uns mitarbeiten, in einem Club zusammenzufassen.

Josef Mautner: Wie ist die Situation der Jugendlichen hier in Stolipinovo? Was sind die Ursachen für ihre Probleme, für die krasse Benachteiligung gegenüber bulgarischen Jugendlichen?

Assen Karagyozov: Das Hauptproblem ist der niedrige Bildungsgrad. Dadurch haben die Jugendlichen später kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Ihre Sprachkenntnisse sind niedrig. Manche sprechen kaum Bulgarisch. Geringe Sprachkenntnisse führen zu Defiziten bei der schulischen Bildung. Und: Wenn sie schlecht qualifiziert sind, sind sie nicht in der Lage, irgendeine Arbeit zu bekommen. Die Konsequenz ist Arbeitslosigkeit. Einige finden zeitlich beschränkte Gelegenheitsjobs. Die meisten Jugendlichen versuchen, im Ausland Arbeit zu finden. Dort verdienen sie ihr erstes Geld, gründen eine Familie, feiern Hochzeit. Dann geht’s wieder ins Ausland. Sie sind ständig unterwegs, immer in Bewegung, einem Job hinterher.

Josef Mautner: Du hast die Defizite in der Schulbildung angesprochen. Wie funktioniert das Schulsystem hier in Plovdiv, beziehungsweise in Stolipinovo?

Assen Karagyozov: Es gibt vier Schulen hier im Stadtteil: 3 Grundschulen, eine mit Mittlerer Reife. In letzter Zeit haben hier im Stadtviertel 25 Schülerinnen die Mittlere Reife geschafft. Und wir haben ca. 55.000 EinwohnerInnen! Viele der Kinder, die hier leben, sind nicht vom Schulsystem erfasst. Die meisten von ihnen gehen nur unregelmäßig zur Schule, oder sie brechen sie vorzeitig ab. Die Mädchen, die in unserem Jugendprojekt mitarbeiten, kommen – wie Elena – aus dem Umland von Plovdiv, aus den Ortschaften, wo wir auch arbeiten. Dort ist es einfacher, weil es keine so durchgängige schulische Segregation gibt wie in der Stadt. Deshalb haben sie etwas bessere Bildungschancen. Die Jugendlichen in den Dörfern sprechen auch sehr gut bulgarisch. Hier in der Stadt findet in den Schulen zu 100 Prozent Segregation statt. Niemand von den EinwohnerInnen hier geht in Plovdiv zur Schule. Natürlich gehen auch keine bulgarischen Jugendlichen in eine der Schulen hier in Stolipinovo, Es gibt praktisch keinen Kontakt mit der Mehrheitsbevölkerung.

Josef Mautner: In den Gesprächen, die wir hier geführt haben, taucht ein Thema immer wieder auf. Es scheint allgegenwärtig zu sein. Das ist die Diskriminierung durch die bulgarische Mehrheitsbevölkerung, der Rassismus gegen Roma. Welche Erfahrungen macht Ihr in Eurer Arbeit damit?

Assen Karagyozov: Das ist ein Riesenthema. Darüber könnte ich sehr lange sprechen! Diskriminierung ist allgegenwärtig hier, und sie wird offen ausgeübt. In der Arbeitswelt, im Alltag, im Schulbereich. Inzwischen ist sie auch in der Politik angekommen. Rassismen gehören dort zum Alltagsgeschäft. Ich erzähle Dir einige Beispiele aus meinem Bekannten- und Freundeskreis: Ein Freund hat sein Kind im städtischen Kindergarten angemeldet. Das Kind wurde zwar angenommen, aber es gibt dort Segregation: also eine separierte Kindergartengruppe, wo nur Romakinder sind. Ein Bekannter wollte im letzten Sommer ein Schwimmbad in Plovdiv besuchen. Einfach im Sommer mit seinen Kindern baden gehen! Er wurde abgewiesen mit der Begründung, es sei überfüllt. Er sah aber, dass es beinahe leer war. Als er nachfragte, was das soll, bekam er die Antwort: „Anordnung vom Chef: No Roma!“ Letzten Sommer besuchten wir eine Schulung in Varna. Der Teilnehmerkreis war gemischt: Roma und Nichtroma. Besuch im Restaurant. Eine halbe Stunde lang kam kein Kellner an den Tisch, um unsere Bestellung aufzunehmen. Die Bulgaren, die dabei waren, gingen zum Manager. Sie bekamen zur Antwort: „Anordnung vom Chef: Keine Roma!“ Hier für unsere Leute im Stadtteil ist dieser Rassismus Alltag: keine Restaurants, kein Schwimmbad, keine Geschäfte, wenn Du als Roma erkenntlich bist. Viele Jugendliche können Dir solche Geschichten erzählen. Es gibt noch welche, die sich aus dem Viertel heraus trauen: die mit hellerer Hautfarbe, und auch dann nur in Gruppen. Am wenigsten Probleme haben sie, wenn sie sich optisch nicht von der Mehrheitsbevölkerung unterscheiden. Die meisten gehen nicht in die Stadt. Wenn es dunkel wird, haben sie Angst, das Viertel zu verlassen oder auch nur in den benachbarten Stadtteil zu gehen – ganz zu schweigen vom Stadtzentrum. Und diese Angst ist nicht unberechtigt: Es gibt immer wieder Angriffe gegen Jugendliche. Anzeigen haben noch nie zu etwas geführt.

Josef Mautner: Ein wachsendes Phänomen im Zusammenhang mit diesem Rassismus gegen Roma in Bulgarien ist hatespeech (eine zum Hass oder zur Gewalt aufstachelnde Redeweise). Welche Erfahrungen machst Du in Deiner Arbeit mit hatespeech in Medien oder im Internet?

Assen Karagyozov: Weniger im persönlichen Bereich. Direkte Erfahrungen damit haben wir kaum, weil die meisten Roma keine Kontakte mit der Mehrheitsbevölkerung haben. Hauptsächlich begegnet uns hatespeech in den Medien: in Zeitungen, Zeitschriften, im Fernsehen, im Internet. Besonders extreme Beispiele sind politische Akteure wie Volen Siderov, der Vorsitzende der nationalistisch-bulgarischen Partei „Ataka“. Er tritt offen neonazistisch auf, etwa in der Öffentlichkeit mit dem Hitlergruß. Siderov ist immer wieder mit der Aussage hervorgetreten: „Mangal“ = Scheißzigeuner, Dreckszigeuner. Eine andere Partei, die „Nationale Front für die Rettung Bulgariens“ hat im Wahlkampf einen Menschenversuch an den Roma vorgeschlagen: Sie forderte, alle Zigeuner in von der Polizei bewachte Reservate zu stecken und als Touristenattraktion auszustellen. Fußballhooligans enthüllen während eines Fußballspiels Transparente in den Stadien: „Zigeuner zu Seife!“ Roma trauen sich deswegen kaum in ein Fußballstadion, auch wenn sie Fans des örtlichen Clubs sind. Sie schauen sich die Spiele im Fernsehen an. Die Polizei greift nicht ein. Wir wollten eine Beobachtungsgruppe mit Studierenden aus der Roma-Community verwirklichen, die Monitoring macht, das heißt sie beobachtet und dokumentiert diskriminierende und rassistische Vorfälle. Bisher ist dieses Projekt nicht gelungen, weil die Finanzierung nicht zustande kam. Wir haben gerade im Rahmen eines EU-Programmes ein Pilotprojekt laufen: Fünf Initiativgruppen in Stolipinovo und im Umland mit je 20-25 Jugendlichen werden in Antidiskriminierungsarbeit geschult. Ihre Aufgabe wird es sein, in den Schulen hier Jugendliche über Diskriminierung aufzuklären: Was ist Diskriminierung, was ist Rassismus? Wie kann man dagegen angehen, Anzeigen einreichen. Die Jugendlichen werden in den Klassen Gespräche zu Diskriminierung führen und die Lösung von Alltagssituationen durchspielen.

Im Rahmen unseres Besuches sprach Josef Mautner auch mit zwei MitarbeiterInnen des Jugendprojektes der ROMA-Foundation – und zwar mit Elena Grigorova und mit Musti Agush. Elena ist 17 Jahre alt, sie stammt aus einem Dorf in der Nähe von Plovdiv und besucht ein landwirtschaftliches Gymnasium. Musti Agush ist 31 Jahre alt, lebt in Stolipinovo und übt den Beruf des Visagisten und Friseurs aus. Beide gehören zu der kleinen Minderheit von Jugendlichen in Stolipinovo, die es geschafft haben, Zugang zu einer schulischen Ausbildung bzw. zu einer Lehre zu bekommen. Sie möchten ihre privilegierte Situation nutzen, um anderen Jugendlichen, die diese Chance nicht haben, zu unterstützen:
Josef Mautner: Ihr arbeitet beide in diesem Jugendclub der ROMA-Foundation mit. Könnt Ihr mir etwas darüber erzählen, wo Ihr herkommt, welche Ausbildung Ihr gemacht habt oder gerade macht und was Ihr in Eurer Freizeit, mit Euren Freunden macht?
Elena Grigorova: Ich wohne in dem Dorf Tschalakovi, das ca. 50 km von Plovdiv entfernt liegt, und gehe dort zur Schule. Ich besuche ein Landwirtschaftsgymnasium und mache dort eine Berufsausbildung zur Landwirtschaftstechnikerin. In der Freizeit treffe ich mich mit meinen Freunden. Eine andere Lieblingsbeschäftigung von mir ist Lesen. Ich komme auch regelmäßig in die Stadt, wenn in der Stiftung Projekte stattfinden oder Veranstaltungen oder wenn ich mit meinen Freundinnen einkaufen gehen will.
Musti Agush: Ich bin hier in Stolipinovo geboren und aufgewachsen; auch hier im Viertel zur Schule gegangen. Ich hatte Schulfreunde, die nach Hamburg gegangen sind mit ihren Familien und hielt immer noch Kontakt zu ihnen über social media. Als ich 17 Jahre alt war, bin ich dann selber nach Hamburg gegangen, habe mir dort Arbeit gesucht und sie auch gefunden: Zuerst lebte ich 7 Monate lang nur bei der Familie meiner Freunde. Erst mit 18 konnte ich wirklich arbeiten, Ich arbeitete als Barkeeper in einer Bar in St. Pauli, 3 Jahre lang. Während dieser Jahre musste ich immer zwischen Hamburg und Stolipinovo hin und her wechseln, denn ich konnte nur für 3 Monate dort bleiben. Zurück in Plovdiv bin dort in die Schule gegangen. Nach diesen drei Jahren arbeitete ich zwei Jahre lang in einem Hotel. Als die Schule zu Ende war, blieb ich dauerhaft in Hamburg. Damals besuchte ich zum ersten Mal einen dreimonatigen Deutschkurs. Denn ein Freund sagte zu mir: „Wenn Du den Beruf, von dem Du träumst – nämlich Visagist – lernen willst, musst du einen höheres Sprachniveau erreichen!“ Also absolvierte ich für 2 Jahre diesen Sprachkurs. Danach konnte ich tatsächlich diesen Beruf erlernen. Es war eine völlig neue Erfahrung für mich, dass ich einen Beruf habe. Bei der Arbeit lernte ich viele Topmodels kennen z.B. Heidi Klum. Aber meine Mutter ist schon alt, und deshalb kehrte ich nach Stolipinovo zurück. Sie lebt Gott sei dank noch. Ich kann auch hier etwas Geld verdienen und arbeite auch als Visagist und Friseur. In Zukunft jedoch will ich wieder zurück nach Deutschland und dort meinen Beruf weiter ausüben. In diesem Land ist es weder für mich noch für die andern von uns möglich, ein normales Leben zu führen. Am allerwenigsten für einen alten Menschen. Hier in Stolipinovo gibt es kein richtiges Gesundheitssystem. Alles kostet viel zu viel Geld. Wenn ich hier leben wollte: Ich gehöre zu den wenigen, die hier einen Job haben. Dennoch: Ich kann mir das Leben nicht finanzieren. Mein Bruder lebt schon seit 6 Jahren in Hamburg, und er kommt nicht mal zu Besuch hierher zurück. Er sagt: „Ich will das alles nicht mehr sehen – diese Menschen in Bulgarien, die Straßen, die Situation, das Leben hier …

Josef Mautner: Mich interessiert auch Euer Alltagsleben. Was macht Ihr in Eurer Freizeit? Geht Ihr manchmal in die Stadt zum Einkaufen oder um Freunde zu treffen?
Elena Grigorova: Es gibt auch hier im Viertel – also in Stolipinovo – vieles zu kaufen. Aber es kommt drauf an … Manchmal gehen wir auch in Stadt, in die Geschäfte. Viele von uns werden angepöbelt oder verjagt, wenn sie in die Stadt gehen. Mir selber ist es noch nicht passiert. Es kommt auch darauf an, wie man sich selbst verhält. Zum Beispiel macht es einen Unterschied, wie man sich kleidet. Wenn man sich schön anzieht, passiert das weniger. Es kommt auch auf das Restaurant an. In manchen wird man nicht eingelassen oder nicht bedient, in manchen schon. Wenn wir uns etwas mehr anpassen, ein wenig integrieren, gibt es auch weniger Diskriminierungen durch die bulgarische Bevölkerung oder rassistische Vorfälle.
Musti Agush: Ich lebe und arbeite in Stolipinovo. Meine Kunden kommen aus der türkischen und aus der Roma-Bevölkerung. Unter den Bulgaren habe ich ganz wenige als Bekannte. Die Diskriminierung hier ist wirklich heftig! Die Menschen aus Plovdiv, also die Bulgaren glauben, wenn sie nach Stolipinovo gingen, würden sie ausgeraubt, ermordet oder sonst was. Aber das ist natürlich Unsinn! Oder: Wie ist es Dir gegangen? Hast Du Dich gefürchtet vor den Leuten hier?
Josef Mautner: Nein. Überhaupt nicht! Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass mir hier etwas passieren könnte!
Musti Agush: Wir sind auch Menschen. Wir haben auch Herz, wir haben auch Kinder. Die Diskriminierung hat extrem negative Auswirkungen auf uns – vor allem für die Jugendlichen: Sie sprechen und verstehen kaum Bulgarisch – also die Sprache, die sie für ihre Ausbildung oder für einen Beruf brauchen würden. Sie machen keine positive Entwicklung durch. Ich bin überzeugt, wir Roma sind kein bisschen anders als die sogenannten „normalen“ Leute. Wir werden so – durch die Unterdrückung, durch die Diskriminierung. Viele unserer Jugendlichen gehen nicht in die Schule. Sie verstehen vieles nicht, sie haben Probleme mit ihrer fehlenden Bildung. Sie verstehen oft nicht, was Wörter wie „Visagist“, „Journalist“, „Toleranz“ oder „Menschenrechte“ bedeuten. Sie brauchen Unterstützung. Deshalb arbeite ich in dem Jugendclub mit. Ich mache das für unsere Menschen. Wir bekommen dafür nichts bezahlt. Ich frage die Jugendlichen zum Beispiel: „Willst du zur Schule gehen? Was denkst du, welchen Beruf du ausüben willst?“ Ein Junge mit 20 sagte mir einmal: „Ich möchte Pilot werden“ Da sagte ich ihm: „Dafür ist es jetzt zu spät. Zuerst musst Du in die Abendschule gehen und Deinen Schulabschluss nachholen. Dann kannst Du dich wieder umschauen, welchen Beruf du in Deinem Alter noch erreichen kannst!“ Wir können nicht allen helfen, aber zumindest etwa 20 Prozent von den Jugendlichen in unserm Viertel bekommen einen Einblick und lernen zu verstehen, wie wichtig Bildung ist.

Josef Mautner: Musti sagte, er habe nur wenige bulgarische Bekannte. Hast Du, Elena, Freunde aus Plovdiv, also Jugendliche, die nicht hier in Stolipinovo oder in einem andern sogenannten „Roma-Viertel“ leben?
Elena Grigorova: Ich lebe ja nicht hier, sondern auf dem Land. Ich habe nicht viele bulgarische Freunde, aber einige sicherlich. Eine meiner besten Freundinnen ist Bulgarin.
Josef Mautner: Ein besonders schlimmer Teil von Rassismus und Diskriminierung ist hatespeech, wie sie in den Medien oder im Internet häufig stattfindet. Dass in Bulgarien hatespeech gegen Roma weit verbreitet ist, wurde bei uns in Österreich bekannt, weil sie auch ein Teil der politischen Propaganda mancher Parteien war, während hier der Wahlkampf für die Parlamentswahlen stattgefunden hat. Habt Ihr auch Erfahrungen gemacht mit hatespeech gegen Roma?
Musti Agush: Ja , natürlich. Ich erzähle Dir ein Beispiel: Wenn jemand im Fernsehen über Roma spricht, sagt er normalerweise, die „Zigeuner“ seien schmutzig. Sie seien wie Tiere, wie Hunde, Und natürlich: „Zigeuner“ klauen. Ich habe einen guten Freund, er ist ein bisschen schwarz. Er bewarb sich bei einer Talenteshow, also bei einer dieser Talkshows im bulgarischen Fernsehen. Er hat wirklich viel Talent, aber sie haben ihn gar nicht reingelassen, nicht zugelassen beim offenen Casting – nur weil er Roma ist. Das Fernsehen will unsere Leute nicht zeigen. Sie sollen nicht vorkommen.
Elena Grigorova: Ich habe sowohl Fernsehsendungen als auch Clips im Internet gesehen mit hatespeech. Zum Beispiel gibt es ein Schimpfwort, das häufig in Zeitungen und Internet vorkommt: „tsiganska rabota“, das heißt wörtlich übersetzt „Zigeunersache“ oder „Zigeunerarbeit“. Aber wenn es hier in Bulgarien verwendet wird, bedeutet es „Pfusch“ oder „Mist“.
Josef Mautner: Was mich noch besonders interessiert: Habt Ihr eine Vision, eine Vorstellung, wie es hier in Plovdiv, in Stolipinovo in fünf Jahren ausschauen soll? Was muss sich ändern, damit die Lebensbedingungen der Menschen besser werden, damit die Diskriminierung aufhört, der Rassismus der Mehrheitsbevölkerung gegenüber den Roma? Und glaubt Ihr, dass eine nachhaltige Veränderung zum Besseren Chancen hat? Dass es realistisch ist, daran zu glauben?
Musti Agush: Ich fürchte: Alles wird in 5-10 Jahren noch gleich sein oder vielleicht sogar noch schlechter, weil die Politik in Bulgarien uns Roma keine Zukunft lässt. Die politische und wirtschaftliche Elite hier, sie denken nur für das Business, nicht für uns, die Menschen. Es wird sich nichts ändern. Jetzt bin ich 31 Jahre alt, bald 32. Wenn ich 40 bin, werde ich wieder nach Deutschland zurückkehren. Ich beantrage eine Aufenthaltsgenehmigung und arbeite dort. Vielleicht komme ich wieder nach Stolipinovo auf Besuch, aber nur für 10 Tage. Ich will in keinem dieser desolaten Wohnblocks, in keiner dieser Hütten wohnen. Ich will diese kaputten, schmutzigen Straßen nicht sehen. Was soll ich hier machen? Ich habe keine Zukunft hier.
Elena Grigorova: Ich habe hier in Stolipinovo und in meinem Dorf Roma kennengelernt, die gute Fähigkeiten und Begabungen haben. Es gibt viele unter uns, die großes Potential haben, die sehr gescheit sind. Sie kennen sich in ihrem Bereich, wo sie arbeiten, sehr gut aus. Aber alle andern, die bulgarische Mehrheit, sie sagen: „Ihr seid „Zigeuner“. Die Roma können ihre Fähigkeiten nicht realisieren, solange sie von den Bulgaren als „Zigeuner“ beschimpft werden. Solange sie unsere Potentiale nicht anerkennen und uns nicht akzeptieren. Unsere Leute fühlen sich dann nicht frei, sie sind bedrückt von der Mehrheit, von dem Zerrbild, das die Mehrheit von ihnen hat. Sie haben nicht genug Selbstbewusstsein, um rauszugehen und ihr Talent zu zeigen. Es gäbe wirklich so viele Leute hier, die was können!

Übersetzung der Interviews aus dem Bulgarischen: Andreas Kunz

An der Projektreise für die Partnerschaft Plattform für Menschenrechte – ROMA-Foundation nahmen teil:
Andreas Kunz, Ursula Liebing, Josef Mautner, Fatma Özdemir, Georg Wimmer.

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