Was macht die Fundamente einer Stadt aus? Was sind die Grundlagen, aus denen heraus sie sich als Gemeinwesen von freien und gleich berechtigten Menschen entwickeln kann, statt eine „Todeskrankheit“ (Thomas Bernhard), eine Agglomeration von Ohnmächtigen und Machthabenden, von Armutsbedrohten und Besitzenden, von Namenlosen und Namhaften zu sein? Was gibt den acht Buchstaben SALZBURG eine Bedeutung, die es wert ist, sie im Gedächtnis zu behalten? Sind es die Grundmauern des alten Domes, die Altstadthäuser, die Festung oder der „Jedermann“, die großen Einkaufstempel an der Peripherie? Wohl kaum. Wenn es jedoch nicht das an der Oberfläche Liegende, nicht das von allen Beachtete und Gesehene ist, was ist es dann?
Der Architekt und Schriftsteller Bogdan Bogdanovic hat in seinen Traumaufzeichnungen eine unterirdische Stadt entworfen, die die Nachtseite, das unbewusste Fundament, die Träume und Erinnerungen der oberirdischen Stadt verkörpert, und sich in seinen Träumen auf ausgedehnte Wanderungen in den Straßen dieser unterirdischen Stadt begeben. Seit geraumer Zeit beschäftigt mich die Frage nach diesen unbewussten Fundamenten meiner Stadt, und um ihr (im buchstäblichen Sinne!) nachzugehen, begebe ich mich auf einen Spaziergang durch Salzburg, und lade Sie ein, mit mir vier Orte aufzusuchen , an denen für mich durch Erinnerungsbilder etwas von jenen Fundamenten, die ich meine, sichtbar werden kann.
Kajetanerplatz
Zunächst gehe ich durch die Kaigasse zum Kajetanerplatz. Dort setze ich mich in eines der alten Wirtshäuser, nahe dem Gebäude des Landesgerichts. In diesem Wirtshaus traf ich mich vor dreißig Jahren während meines Zivildienstes vier Monate hindurch mit einem alten Mann. Ich arbeitete bei einem privaten Verein für Altenbetreuung. Der alte Mann lebte allein, und die Dienstleistung, für die er den Verein bezahlte, war, dass sich einmal in der Woche einer der Zivildiener in diesem Wirtshaus mit ihm auf einen Kaffee und mehrere Zigaretten traf. Wie dies alte Leute zu tun pflegen, erzählte er mir während dieser Treffen viele Male und in verschiedenen Variationen seine Geschichte mit Stefan Zweig, und, selbst wenn sie erfunden sein sollte, ist sie es wert, erinnert zu werden: Als junger Schneidergeselle ging er jeden Tag in dieses Wirtshaus zum Essen. Dort traf er öfters auf den „Meister“, wie er ihn nannte, der sich beim Kaffee oder beim Essen auch mit gewöhnlichen Leuten wie seinesgleichen unterhielt. Einmal bemerkte Zweig zu ihm, dass Juden wie er in Salzburg offenbar wieder unerwünscht seien. „Wie dumm“, erwiderte mein Gesprächspartner, damals noch junger Geselle. „Als ob es etwas ausmache, ob ich Jude bin oder Christ, ob mein Vater eine dunkle Haut hat oder eine helle und ob meiner Mutter schwarze Haare wachsen oder blonde!“ Kurze Zeit später erfuhr mein Gesprächspartner, dass Zweig Salzburg verlassen habe, und er traf ihn nie wieder; „was mir sehr leid tat, denn ich hatte inzwischen extra seinen Roman gelesen, um mich mit ihm darüber unterhalten zu können!“i
Rosa-Hofmann-Straße
Als nächstes fahre ich mit der Obus-Linie 1 Richtung „Europark“, steige jedoch drei Stationen vor dem Einkaufszentrum aus dem voll besetzten Bus. Ich gehe zu der Stelle, wo – unbeachtet von den vielen Jugendlichen, die hier täglich auf dem Weg zum „Europark“ vorbeikommen – eine kleine Seitenstraße von der Klessheimer Allee abzweigt. Ich bleibe bei dem Straßenschild stehen, das den Namen von Rosa Hofmann trägt, einer jungen Näherin aus Wilhering, die während des Krieges in Salzburg lebte. Rosa Hofmann war 1942 Leiterin der illegalen Kommunistischen Jugend in Salzburg und verbreitete gemeinsam mit ihren Freunden Flugblätter, die die Arbeiter zu Sabotageakten in „kriegswichtigen“ Betrieben und die Soldaten an der Ostfront zur Desertion aufriefen: „Wir wollen beizeiten diesem blutigen und sinnlosen Krieg ein Ende setzen!“ Für diesen und ähnliche Sätze wurde Rosa Hofmann am 15. Dezember 1942 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode verurteilt und am 9. März 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.ii Sie war 23 Jahre alt, als sie starb. Bei Workshops in Schulen und mit Jugendgruppen erzähle ich manchmal die Geschichte von Rosa Hofmann und beschließe sie mit der Feststellung der Journalistin Franca Magnani: „Je mehr BürgerInnen mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger HeldInnen wird es einmal brauchen.“
Riedenburg
Der dritte Abschnitt meines Spazierganges führt mich von Lehen zur sog. „Riedenburg-Kaserne“ in Maxglan. Ich gehe hier den Weg nach, den ein anderer Salzburger im Jahr 1946 öfters gegangen ist. Johann Pscheidt lebte seit dem Kriegsende in einer kleinen Wohnung in der Ignaz-Harrer-Straße 81a. Er war während des Krieges, 1941, nach Zaglembie in Polen versetzt worden und arbeitete dort als „Treuhänder“ für verschiedene jüdische Betriebe. Pscheidt hat dort mit der Untergrundbewegung Kontakt aufgenommen, um in den Betrieben, die er leitete, systematisch Juden einstellen zu können und sie so vor der Deportation in die Vernichtungslager zu bewahren. Ein Beispiel für mehrere der Rettungsaktionen, die Johann Pscheidt unter ständiger Lebensgefahr durchführte: Er errichtete gemeinsam mit der Untergrundbewegung eine Schuhcremefabrik direkt neben dem Ghetto von Zaglembie. Bei der „Liquidation“ des Ghettos durch die Deutschen konnte unter Leitung von Johann Pscheidt eine Reihe von Einwohnern über die Fabrik aus dem Ghetto geschleust werden und untertauchen. Nach dem Krieg lebte er unerkannt und in bescheidenen Verhältnissen in Salzburg. Johann Pscheidt hielt Kontakt zu seinen Freunden aus der Untergrundbewegung und zu Geretteten, jedoch er lehnte jede Hilfe, die ihm von ihnen angeboten wurde, ab. Manus Diamant, ein Mitglied der Untergrundbewegung Sosnowitz, traf ihn zufällig in Salzburg wieder, als er sein Büro im DP-Lager Riedenburg aufsuchte: Herr Pscheidt ging vor dem Eingang zum Lager auf und ab, und auf Diamants Frage, was er hier mache, antwortete er: „Jeden Abend nach der Arbeit gehe ich hier spazieren, um den Neubeginn jüdischen Lebens und die jüdischen Babies in den Kinderwagen zu sehen – das einzige, was mir Freude und Glück bringt. Eine neue jüdische Generation entsteht vor meinen Augen.“ Johann Pscheidt wurde als einziger Salzburger in die Liste der als „Gerechte“ ausgezeichneten Österreicher in die Akten von Yad-Vashem aufgenommen. 29 ehemalige Mitglieder der Untergrundbewegung haben am 7.2. 1962 in Tel Aviv in einer eidesstattlichen Erklärung die Rettungsaktionen von Johann Pscheidt dargestellt und diese Dokumentation mit den Worten abgeschlossen: „Unser Dank geht an Herrn Pscheidt für sein humanes Verhalten in der Kriegszeit, als der ‚Jude‘ zu einem Ungeheuer gestempelt wurde, das endgültig vernichtet werden sollte. Es gelang ihm, sich über die Zeitumstände zu erheben und das Bildnis des Menschen zu wahren.“ iii
Die Plätze um den Dom
Eines Tages im chaotischen Nachkriegseuropa, so erzählte mir Bogdan Bogdanovic auf einem unserer Spaziergänge durch Salzburg, der uns auf den Domplatz geführt hatteiv, strandete der junge, mittellose Student am Salzburger Bahnhof. Nach einer etwas unbequem verbrachten Nacht im Bahnhofsrestaurant (das inzwischen der Geschichte angehört), begab er sich an einem nasskalten Oktobermorgen auf einen Spaziergang in die Stadt. An der Stirnseite des Domes angelangt, dachte er damals, in einem geschlossenen „Ehrenhof“ zu stehen, den man nur auf demselben Weg wieder verlassen könne. Schließlich entdeckte er doch noch die Durchgänge an den Seiten und entschied sich für den linken, nordseitigen, der ihn auf den Residenzplatz führte und schließlich, im Rundgang um den Dom, über den Kapitelplatz zum südseitigen Durchgang, der ihn wieder zur Stirnseite des Domes zurückbrachte. Und obwohl der junge Bogdanovic die pythagoreischen, antithetischen Kategorien noch nicht studiert hatte, habe er, so meinte der alte Bogdan Bogdanovic beim Erzählen, dennoch damals schon etwas von der alchemistischen Metapher, dem ketzerischen Geheimnis dieser architektonischen Anordnung verspürt, und für ihn scheint der Umriss der Plätze in Gestalt eines dreiblättrigen Geheimnisses direkt aus dem Herbarium des aufrührerischen Paracelsus übernommen. Leider konnte ich Bogdan Bogdanovic nicht mehr die Frage stellen, die mich heute bewegt: ob man – zumindest in Gedanken – in das Kleeblatt dieser drei Plätze auch die ideengeschichtlich-architektonische Dreigestalt einer Synagoge, einer Kirche und einer Moschee einschreiben könne?
Diese vier Orte, die ich mit Ihnen aufgesucht habe, sind ein – willkürlich herausgegriffener – Teil der Topografie meiner inneren Stadt, des unterirdischen, unbewussten Salzburg, das ich nur zu selten Gelegenheit habe aufzusuchen – sei es in meinen Träumen oder im Erzählen von Erinnerungen, die durch die Träume aufgehoben sind. Auf den Straßen dieser unterirdischen Stadt spazierend, mag es manchmal gelingen, mich über die Zeitumstände zu erheben und das Bildnis des Menschen für mein Leben in der oberirdischen zu bewahren.
Josef P. Mautner
i Bei dem erwähnten „Roman“ kann es sich nicht um Stefan Zweigs einzigen Roman „Ungeduld des Herzens“ gehandelt haben, der erst 1939 bei Bermann-Fischer in Stockholm erschien.
ii Anklageschrift und Todesurteil gegen Rosa Hofmann finden sich im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands; ihr Abschiedsbrief wurde am 31.10.1945 im „Salzburger Tagblatt“ veröffentlicht.